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Don DeLillos „Die Stille“ist der Roman der Stunde
Wie in einem Labor beschreibt der US-amerikanische Autor unsere Gegenwart – und unsere Ratlosgikeit.
DÜSSELDORF Das ist der Roman der Stunde. Aber so etwas sagt sich immer so leicht, weil es gut klingt und vor allem spektakulär. Und genau das ist der Roman von Don DeLillo nicht: Statt grell zu sein, ist er dezent, statt spektakulär berührend und statt dröhnend still. So heißt das neue Werk dann, „Die Stille“, ein Titel, von dem Marketingstrategen wahrscheinlich abgeraten hätten und der doch treffsicher diese unglaubliche Sprache zu einer unglaublichen Zeit beschreibt.
„Die Stille“spielt angeblich im Jahr 2022, doch gefühlt ist das eine Lüge. Auch wenn das Drama sich nicht gleich heute ereignet, so tischt uns DeLillo eine gespenstische Geschichte auf, die schon morgen, übermorgen wirklich werden könnte. Ein realistisches Schreckensszenario, gerne auch Dystopie genannt.
Im Grunde passiert nur das: Der Strom fällt plötzlich aus. Aber überall. Und somit auch für die fünf Menschen, die in New York verabredet sind, zum Super Bowl Sunday 2022. In dem Apartment warten Diane, die als College-Professorin zu früh aufgehört hat, ihr Mann Max und Martin, der früher bei Diane studierte und jetzt Physiklehrer ist. Erwartet werden noch Tessa und Jim, die aus Paris kommen und im Anflug sind. Und die im Flugzeug so wunderbar in bester Existenzialisten-Manier übers Leben philosophieren und dessen Fortgang: „Sich die Zeit vertreiben. Langweilig sein. Sein Leben leben.“
Dabei fällt der Blick immer wieder auf die Bildschirme mit Flughöhe und Geschwindigkeit, Ankunftszeit und so weiter. Bis der Bildschirm schwarz wird, alles außer Kontrolle gerät und mit Ach und Krach die Landung gelingt. „Eine taumelnde Masse aus Metall, Glas und menschlichem Leben, vom Himmel herunter“, heißt es.
Jim verletzt sich dabei, nichts Schlimmes, eine kleine Platzwunde nur. Die muss im Krankenhaus versorgt werden, und auf den Gängen des New Yorker Hospitals herrscht bereits apokalyptisches Chaos – während Tessa und Jim im stillen Einverständnis auf einer Toilette Sex miteinander haben. Nicht einmal eine Seite reicht dazu, und diese Sexszene ist so dezent und wirklich, ohne Scham und dennoch nicht schamlos, dass allein daran sich DeLillos Wortmacht erlesen lässt. Der Hinweis aus dem benachbarten Toilettenraum, „Nehmen Sie doch Rücksicht“, ist unbegründet.
Ist das jetzt der Corona-Kollaps? Der gebürtige New Yorker hat mit dem gerade einmal 100 Seiten „dicken“Roman schon 2018 begonnen, also vor der Pandemie. Und ein einziges Mal taucht das Wort Corona auf – als eine Reminiszenz an frühere Katastrophenzeiten: „Was wir alle noch frisch in Erinnerungen haben, das Virus, die Seuche, Corona, die Märsche durch die Flughäfen, die entleerten Straßen der Städte“, sagt Tessa. Mehr nicht.
Don DeLillo hat in einem Interview darauf so karg geantwortet wie jemand, der selbst noch ein fassungsloser Beobachter von alldem ist. Er habe mit seinem Roman lediglich „auf die neue Lage reagiert wie alle anderen Menschen auch“, sagte er. Die Frage sei: „Wie leben wir jetzt?“
Der Horror dieses Szenarios ist seine Stille. Don DeLillo macht daraus ein Kammerspiel; er strickt keinen Thriller aus dieser Lage, sondern entwirft eine Art Laborsituation für fünf Personen in einer so klaren und fast reinen Sprache, dass es weh tut. Wir verstehen jeden Satz, kein Wort ist uns fremd, und doch begreifen wir immer weniger, was da eigentlich geschieht und warum und wie es weitergehen könnte.
Don DeLillo, inzwischen 84 Jahre alt und noch immer ein gehandelter Kandidat für den Literaturnobelpreis, hat einen Roman darüber geschrieben, was wir lange Zeit glaubten, nämlich alles im Griff zu haben, und darüber, was wir sind: oft ratlos, am Ende hilflos, ohne Macht.
„Die Stille“ist der Roman der Stunde.
Don DeLillo: „Die Stille“. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. Kiepenheuer & Witsch, 106 Seiten, 20 Euro.