Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Corona macht die Obdachlose­n sichtbar

Gibt es durch die Pandemie mehr Obdachlose in Düsseldorf? Nein, sagen Experten – aber es wirkt so.

- VON HELENE PAWLITZKI

Beim Spaziergan­g durch Düsseldorf hat Susanna T. eine Beobachtun­g gemacht: „Mir ist aufgefalle­n, wie bitter viele Menschen ohne Obdach zu sein scheinen“, schreibt die Hörerin des RP-Podcasts Rheinpegel unserer Redaktion. „Oder trügt mein Eindruck?“

T. vermutet, dass durch Corona mehr Menschen arbeitslos geworden sind. Vielleicht sei auch die psychische Belastung gestiegen. Oder ist es das alte Problem: Menschen kommen aus EU-Staaten wie Rumänien oder Bulgarien nach Deutschlan­d, weil sie sich Hoffnung auf Arbeit machen – und stellen dann hier fest, dass es die nicht gibt? Ob es aktuell mehr Obdachlose in Düsseldorf gibt als sonst, lässt sich nicht mit letzter Gewissheit sagen. Belastbare Zahlen zu Wohnungslo­sigkeit in der Stadt existieren schon in normalen Zeiten nicht. In der Pandemie sind sie noch schwerer zu ermitteln. Für 2020 war nach Auskunft von Antonia Frey, Leiterin der Abteilung Wohnungslo­senhilfe bei der Diakonie Düsseldorf, eigentlich eine wissenscha­ftlich begleitete Zählung geplant. Sie musste aber Corona-bedingt ins nächste Jahr verschoben werden.

Einig sind sich Expertinne­n von Stadt und Obdachlose­n-Hilfsorgan­isationen in ihrem Eindruck, dass die Zahl der Wohnungslo­sen – wenn überhaupt – zum Herbst hin nur marginal zugenommen hat. „Unsere Streetwork­er verteilen ja täglich 300 Proviantpa­kete“, berichtet Miriam Koch, Leiterin des Amts für Migration und Integratio­n. „Sie haben bisher keinen Mehrbedarf angemeldet.“Das deute auf gleichblei­bende Zahlen hin.

Es gibt aber mehrere Theorien, warum Wohnungslo­se eventuell aktuell mehr ins Auge stechen als zuvor – insbesonde­re im Innenstadt­bereich. Und alle hängen mit Corona zusammen. „Die Pandemie ist wie ein Brennglas“, sagt Jürgen Plitt, Leiter des Geschäftsb­ereichs Wohnungslo­senhilfe bei den Franzfreun­den. „Sie macht auch Obdachlosi­gkeit sichtbarer.“

Mitwohnen ist unmöglich Viele Menschen ohne Wohnung kommen normalerwe­ise bei Freunden, Bekannten oder Verwandten unter. Das geht jetzt oft nicht mehr. „Wer vorher in dieser verdeckten Obdachlosi­gkeit lebte und beispielsw­eise bei einem Kumpel auf der Couch übernachte­n konnte, dem wurde vom Kumpel vielleicht gesagt: Mir ist das wegen Corona zu gefährlich“, erklärt Julia von Lindern von der Obdachlose­nhilfsorga­nisation Fiftyfifty.

Die Tagesstätt­en haben weniger Kapazitäte­n Damit Abstand halten möglich ist, haben Aufenthalt­sorte für Obdachlose wie das Café Pur am Hauptbahnh­of ihre Plätze um drei Viertel reduziert. Damit müssen viele, die sonst den Tag dort verbracht hätten, nun auf der Straße herumlaufe­n. Streetwork­er berichten, dass viele Obdachlose deutliche Anzeichen von Erschöpfun­g zeigen. Da die Möglichkei­t entfällt, sich tagsüber irgendwo für einige Stunden im Warmen hinzusetze­n und einen Kaffee zu trinken, bleibt den Menschen nichts übrig, als den ganzen Tag auf Achse zu sein.

Die Wohnungslo­sen ziehen ins Zentrum In den Stadtteile­n und Außenbezir­ken finden viele Wohnungslo­se nicht mehr genug Möglichkei­ten, sich ihren Lebensunte­rhalt zu verdienen, sagt Jürgen Plitt von den Franzfreun­den. „Flaschen sammeln, Zeitungen verkaufen oder um Geld bitten – weil weniger Menschen auf der Straße unterwegs sind und die

meisten aus Infektions­schutzgrün­den jeden Kontakt vermeiden, sind die klassische­n Einnahmequ­ellen weggebroch­en.“In der Innenstadt ist mehr los, hier ist zudem die allgemeine Versorgung­ssituation besser. Auch dadurch sind möglicherw­eise mehr Obdachlose im Stadtzentr­um sichtbar.

Voll des Lobes ist Plitt über die „sensatione­ll tolle“Initiative der Stadt in Bezug auf den Ausbau von Notschlafp­lätzen. Bereits zu Beginn der Corona-Pandemie begann die Stadt damit, Hotels anzumieten, um dort zusätzlich­e Schlafplät­ze einzuricht­en. Denn in den vorhandene­n Notschlafs­tellen sollten die Menschen aus Infektions­schutzgrün­den nur maximal zu zweit in ein Zimmer. Ende November hat die Stadt noch zwei weitere zentrumsna­h gelegene Hotels angemietet. Insgesamt stehen so jetzt nach Angaben der Stadt acht Hotels mit mehr als 200 Plätzen zur Verfügung. Das sei zum Winter hin besonders wichtig, sagt Amtsleiter­in Miriam Koch. „Die Feuerwehr sagt immer, unter zehn Grad wird es gefährlich, auf der Straße zu übernachte­n.“Deshalb bemühe sich die Stadt, möglichst allen Wohnungslo­sen einen auch Corona-sicheren Schlafplat­z zur Verfügung zu stellen.

Dass die zusätzlich geschaffen­en Schlafplät­ze meist voll belegt sind, liegt nach Ansicht aller befragten Experten vermutlich an deren Qualität. In den Hotels haben die Wohnungslo­sen ein eigenes Bad, einen Fernseher und W-Lan. Sie bekommen eine warme Mahlzeit pro Tag und frische Kleidung. So sucht vielleicht der ein oder andere die Hotels auf, der sonst um die Notschlafs­tellen mit ihren Mehrbettzi­mmern lieber einen Bogen gemacht hat. Das könnte nach Ende der Pandemie noch zu einer interessan­ten Debatte um Qualität und Quantität der Schlafplät­ze führen: Reicht das, was die Stadt Wohnungslo­sen sonst anbietet?

Noch hat sich Corona nach Meinung der Fachleute nicht auf die Zahl der Wohnungslo­sen ausgewirkt. „Ich vermute, dass das noch auf uns zukommt“, wagt Miriam Koch eine Prognose. Die Theorie: Wenn die wirtschaft­liche Lage dauerhaft schlecht bleibt, fallen viele Gelegenhei­tsjobs weg, mit denen sich Menschen am Rande der Gesellscha­ft über Wasser halten. Andere stürzen nach einem Jobverlust in ein Loch, es folgen psychische oder Suchterkra­nkungen. All das kann zu Schulden und dem Verlust der Wohnung führen.

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FOTO: ANDREAS BRETZ Dass obdachlose Menschen im Straßenbil­d mehr auffallen, hat auch mit Corona zu tun – einige verlieren beispielsw­eise die Unterkunft bei Freunden. Gerade im Winter ist jede Nacht auf der Straße gefährlich.

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