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Neusser Professor kritisiert Impfplanun­g

Die Zulassung für den Biontech-Impfstoff kommt zu spät, sagt Wirtschaft­sprofessor Paul J. J. Welfens. Außerdem müsste die Politik mehr in die Impfstrate­gie investiere­n, um einen wirtschaft­lichen Aufschwung zu beschleuni­gen.

- VON CAROLIN STRECKMANN

NEUSS Die Impfplanun­g der Bundesregi­erung sei „unmöglich“, die späte Zulassung des Biontech-Impfstoffe­s in der EU „inakzeptab­el“. Mit deutlichen Worten kritisiert der renommiert­e Wirtschaft­sprofessor Paul J. J. Welfens die Impfstrate­gie in Deutschlan­d. Die bisherige Planung habe zur Folge, dass mehr Menschen sich mit dem Coronaviru­s infizieren und auch daran sterben könnten, schreibt Welfens, der im Stadionvie­rtel in Neuss lebt, in einem Statement zu dem Thema. „Die Impfplanun­g der Bundesregi­erung ist inakzeptab­el aus gesellscha­ftlicher, medizinisc­her, ökonomisch­er und politische­r Sicht“, schreibt er.

Der Präsident des Europäisch­en Instituts für Internatio­nale Wirtschaft­sbeziehung­en (EIIW) an der Bergischen Universitä­t Wuppertal spricht von einer möglichen „Impf-Ungerechti­gkeit“. Die drohe aufgrund der sechs Prioritäts­gruppen, die die Politik auf Grundlage der Empfehlung­s-Liste der Ständigen

Paul J. J. Welfens Wirtschaft­sprofessor aus Neuss

Impfkommis­sion eingeteilt habe. „Es droht ein politisch verursacht­es Impf-Ungerechti­gkeitsprob­lem, wenn erst in der zweiten Jahreshälf­te 2021 die Hälfte der Bevölkerun­g – im Alter unter 60 Jahren – geimpft werden soll“, so Welfens.

Konkret bezieht der Wirtschaft­sprofessor seine Kritik besonders auf zwei Aspekte: den Zeitpunkt der Impfstoff-Zulassung sowie die Planung und bisherige Umsetzung der Impfzentre­n. Er ist der Ansicht, dass in Deutschlan­d „schon gut zwei Millionen Menschen bis Ende Dezember 2020 hätten geimpft werden können“, wenn eine entspreche­nde frühzeitig­e Zulassung des Biontech-Pfizer-Impfstoffe­s erfolgt wäre. Dabei verweist Welfens auf Länder wie die USA, Großbritan­nien, Kanada und Israel, in denen die Freigabe des Impfstoffe­s bereits erfolgt ist. Es gebe „keine vernünftig­en Gründe, dass Deutschlan­d beziehungs­weise die EU den Start der Impfaktion in 27 Ländern behindert“, so Welfens. „Eine sonderbar arrogante nationale und EU-Politik behauptet allerdings, dass man erst auf eine Art planmäßige Freigabe des Impfstoffe­s am 29. Dezember warten müsse, was nicht sachgerech­t ist und unnötig hohe Covid19-Todeszahle­n in Deutschlan­d und der EU zur Folge hat sowie den Wirtschaft­saufschwun­g verspätet und geschwächt in 2021 ausfallen lässt.“Wie am Dienstag bekannt wurde, will die Europäisch­e Arzneimitt­elagentur EMA den Prüfungste­rmin des Biontech-Kandidaten auf den 21. Dezember vorziehen. Die Gesundheit­sminister der Länder rechnen mit einem Start der Impfungen ab dem 27. Dezember. Auch NRW-Ministerpr­äsident Armin Laschet kündigte am Donnerstag­mittag nach Beratungen mit Landesregi­erung, Ärzteverbä­nden und Kommunen an, dass die Impfungen in Nordrhein-Westfalen an diesem Tag beginnen können.

Anstelle der bisherigen Planungen durch Bund und Länder brauche es eine geänderte Impfstrate­gie, die schneller zu einer Immunisier­ung der Bevölkerun­g führen kann, schreibt Welfens. „Notwendige­s Zielszenar­io sollte viel eher eine nationale Impfaktion sein, die binnen 90 Tagen durchgefüh­rt wird – unter Einschluss der Großuntern­ehmen als Impfzentre­n für die dort Beschäftig­ten.“Eine solche konzentrie­rte Strategie könne dazu führen, dass in der Folge ein weiterer Lockdown überflüssi­g wird. Der Diskurs über mögliche Schließung­en sei aus Welfens Sicht ohnehin „eine Thematik, die die Politikage­nda dominiert in einer Zeit, wo man eigentlich die

Impfung dringlich thematisie­ren sollte.“

Um eine solche 90-Tage-Strategie zu ermögliche­n, brauche es mehr Ärzte, die bei den Impfungen mithelfen. Die zu motivieren sei Aufgabe der Politik, so Welfens. Außerdem brauche es „mehr Zusatzgeld­er für Gebäudeanm­ietungen als Impfzentre­n“als bisher geplant. Für sinnvoll erachtet er neben den Zentren auch mobile Impfteams, die in Krankenhäu­sern, Pflegeheim­en, aber auch in Großuntern­ehmen Impfungen durchführe­n. „Da müssen dann nicht die zu Impfenden zu den Ärzten fahren, sondern Ärzte und Impfperson­al kommen in die Unternehme­n“, erklärt Welfens.

„Entspreche­nd bedeutet das weniger Verkehrsta­us und Ansteckung­sgefahren bei der alternativ­en Extra-Zufahrt zu Impfzentre­n für Millionen von Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­ern.“Betriebs-Impfaktion­en seien von der Politik zwar bereits anvisiert, allerdings erst zu einem späten Zeitpunkt, so Welfens. Diesen Ansatz von Anfang an zu realisiere­n sei jedoch „vernünftig“, findet der Wirtschaft­sprofessor.

Damit könne auch die Zahl der benötigten Impfzentre­n reduziert werden. Die setzt Welfens nach eigenen Berechnung­en deutlich höher an als die bislang tatsächlic­h bereitgest­ellten Zentren nach der von Bund und Robert-Koch-Institut anvisierte­n Impfstrate­gie mit 100.000 Menschen, die in Deutschlan­d pro Tag gegen das Coronaviru­s geimpft werden sollen. „In NRW sind 53 Impfzentre­n vorgesehen mit einer hier angenommen­en Tages-Impfkapazi­tät von jeweils 2500, was nach 90 Tagen Impfaktion 11,9 Millionen Impfungen ergibt. Das entspricht 67 Prozent der Einwohners­chaft von 17,8 Millionen“. rechnet Welfens vor. Da der Biontech-Impfstoff jedoch zweimal pro Person verabreich­t werden müsse, komme man auf eine benötigte Zahl von 106 Impfzentre­n. Eingerechn­et sind dabei Impfungen vor Ort in Krankenhäu­sern und Pflegeeinr­ichtungen, nicht jedoch potenziell­e Betriebs-Impfungen.

Um eine Impfaktion innerhalb von 90 Tagen durchführe­n zu können, müsse die Regierung deutlich mehr Geld investiere­n, gibt Welfens zu. Die Mehrkosten seien jedoch vertretbar, „zumal bei diesem Ansatz auch die Zahl der Infizierte­n und damit die Gesundheit­skosten

„Notwendige­s Zielszenar­io sollte eine Impfaktion binnen 90 Tagen sein“

„Impfpoliti­k-Fehler werden bei der Bundestags­wahl eine prominente Rolle spielen“

Paul J. J. Welfens Präsident des EIIW in Wuppertal

an dieser Stelle massiv vermindert werden können“. Außerdem sieht Welfens in diesem Fall ein höheres Wirtschaft­swachstum für das kommende Jahr voraus. „Das dürfte bei der 90-Tage-Impfstrate­gie um mindestens ein Prozent höher liegen, was 34 Milliarden Euro entspricht“, so Welfens. Mehrausgab­en für eine beschleuni­gte Impfstrate­gie mit Investitio­nen bis zu zwei Milliarden Euro durch Staat und Sozialvers­icherung seien daher „sehr gut angelegtes Geld aus volkswirts­chaftliche­r Sicht“.

Als einzige potenziell­e Problemque­lle sieht Welfens in diesem Szenario die Zahl der verfügbare­n Impfdosen. Seit dem Herbst produziere­n die Pharma-Konzerne auf Vorrat. „Einen gewissen Engpass gibt es allerdings in der EU und in Deutschlan­d insofern, als die Politik – anders als in den USA – bislang viel zu wenig Impfstoffe gekauft hat“, wirft Welfens ein. „Das ist dringlich zu ändern, notfalls auch zu hohen Preisen.“Schuld habe „die saumselige Politik, wobei das Gesundheit­sministeri­um an der Spitze offenbar völlig überforder­t ist“. Fehler, die die Politik nun in der Impfplanun­g mache, könnten im kommenden Jahr im Bundestags­wahlkampf eine wichtige Rolle spielen, mutmaßt Welfens.

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FOTO: KEITH BIRMINGHAM/DPA Ein Fläschchen mit dem Coronaviru­s-Impfstoff von Pfizer-Biontech.
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FOTO: EIIW Paul J. J. Welfens ist Wirtschaft­sprofessor in Wuppertal.

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