Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Europa in Sorge vor neuer Virus-Variante
Die mutierte Form verbreitet sich derzeit in England und soll deutlich ansteckender sein. In Deutschland ist sie noch nicht aufgetreten.
LONDON Eine neue, in Großbritannien lokalisierte Variante des Coronavirus löst Unruhe aus. Das Land stehe vor einer enormen Herausforderung, sagte Gesundheitsminister Matt Hancock. Um das Virus einzudämmen, gilt seit Sonntag in London und weiten Teilen Südostenglands ein harter Shutdown mit Ausgangssperren, auch über die Weihnachtstage. In Aussicht gestellte Lockerungen müssten zurückgenommen werden. Mehr als 16 Millionen Menschen sind betroffen. Hancock schloss nicht aus, dass die schärferen Maßnahmen „in den kommenden Monaten“in Kraft blieben. Auch Südafrika meldet eine neue Virus-Mutation, die für die schnelle Ausbreitung der zweiten Corona-Welle im Land verantwortlich gemacht wird.
Ist die neue Virus-Variante gefährlicher?
Das lässt sich noch nicht sagen. Laut britischen Wissenschaftlern ist die als VUI2020/12/01 bezeichnete Variante um bis zu 70 Prozent ansteckender als die bisher bekannte Form. Schon bei mehr als 60 Prozent der Neuinfizierten in London werde die mutierte Version nachgewiesen. Es gebe aber keine Hinweise auf schwerere Krankheitsverläufe oder eine erhöhte Sterblichkeit. Bei der in Südafrika auftretenden Variante 501.V2 infizieren sich vor allem jüngere Menschen, zudem sollen vermehrt schwerere Verläufe auftreten.
Wirken die Impfstoffe auch gegen die neue Mutation?
Die britischen Behörden gehen davon aus, dass die Impfstoffe gegen die neue Variante wirksam sind. Da die Mutation aber über viele genetische Veränderungen im sogenannten Spike-Protein
verfügt und der Impfstoff von Biontech dort ansetzt, wurden Befürchtungen laut, dass die Wirksamkeit eingeschränkt sein könnte. Dazu gibt es aber noch keine Erkenntnisse.
Ist die Variante schon in Deutschland aufgetreten?
Hierzulande wurde die Mutation noch nicht gesehen, schreibt Christian Drosten, Corona-Experte der Berliner Charité, auf Twitter. Die Verbreitung in England könne Zufall sein. Auch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) betonte, bislang sei die Mutation
in Deutschland nicht nachgewiesen worden. Bekannt wurden am Wochenende aber Fälle in den Niederlanden, Dänemark und Italien. Denkbar ist, dass in der Region in England, in der sich die neue Variante ausgebreitet hat, zuvor nur wenige Menschen mit der Ursprungsvariante infiziert waren.
Gibt es weitere Mutationen?
Ja, sehr viele sogar. Forscher haben für eine Ende November veröffentlichte Studie Coronavirus-Genome von mehr als 45.000 Menschen aus 99 Ländern untersucht. Dabei wurden 12.700 Mutationen festgestellt, nennenswerte Auswirkungen hatten sie nicht. Erst vor Kurzem wurde eine als gefährlich erachtete Mutation auf Zuchtfarmen für Nerze in Dänemark gefunden. Millionen Tiere wurden vorsichtshalber getötet. Mutationen erleichtern es Viren oft, sich zu verbreiten, sie führen aber nicht zwangsläufig zu schwereren Krankheitsverläufen. Auch eine Abschwächung ist möglich – denn Ziel des Virus ist es, sich zu verbreiten, nicht seinen Wirt zu töten.
Welche Maßnahmen werden weiter
ergriffen?
Britische Wissenschaftler empfehlen, Verbreitung und Eigenschaften der neuen Variante weiter zu untersuchen. Die Weltgesundheitsorganisation twitterte, sie stehe mit Großbritannien in engem Kontakt. Die britischen Behörden würden Ergebnisse ihrer Studien teilen.
Wie reagieren die europäischen Nachbarn?
Deutschland stoppt Passagierflüge aus Großbritannien; Landungen aus dem Land sollten ab Mitternacht nicht mehr möglich sein. Die Niederlande, Italien, Luxemburg, Irland und Österreich stellen den Flugverkehr ebenfalls ein. Belgien schließt für mindestens 24 Stunden seine Grenzen, Frankreich für 48 Stunden. Die EU-Staaten stehen in engem Kontakt, um das weitere Vorgehen in den nächsten Tagen abzustimmen.
Gibt es eine europaweite Strategie im Kampf gegen das Virus?
Laut Hunderten Wissenschaftlern ist dies dringend erforderlich. Gemeinschaftliches Handeln sei notwendig, um die Pandemie einzudämmen, heißt es in einem Positionspapier, das die deutsche Physikerin Viola Priesemann initiierte und das im Fachmagazin „The Lancet“veröffentlicht wurde. Zu den Unterzeichnern gehören etwa Drosten und RKI-Präsident Lothar Wieler. Die Wissenschaftler sagen, dass es bei offenen Grenzen unmöglich sei, die Infiziertenzahlen niedrig zu halten. Daher müssten die Fallzahlen mit einer gemeinsamen Strategie gedrückt werden. Als Zielmarke gaben sie zehn Neuinfektionen auf eine Million Einwohner aus. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft hat für den heutigen Montag ein Krisentreffen mit allen 27 Staaten in Brüssel einberufen.