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Europa in Sorge vor neuer Virus-Variante

Die mutierte Form verbreitet sich derzeit in England und soll deutlich ansteckend­er sein. In Deutschlan­d ist sie noch nicht aufgetrete­n.

- VON JÖRG ISRINGHAUS FOTO: STEFAN ROUSSEAU/DPA

LONDON Eine neue, in Großbritan­nien lokalisier­te Variante des Coronaviru­s löst Unruhe aus. Das Land stehe vor einer enormen Herausford­erung, sagte Gesundheit­sminister Matt Hancock. Um das Virus einzudämme­n, gilt seit Sonntag in London und weiten Teilen Südostengl­ands ein harter Shutdown mit Ausgangssp­erren, auch über die Weihnachts­tage. In Aussicht gestellte Lockerunge­n müssten zurückgeno­mmen werden. Mehr als 16 Millionen Menschen sind betroffen. Hancock schloss nicht aus, dass die schärferen Maßnahmen „in den kommenden Monaten“in Kraft blieben. Auch Südafrika meldet eine neue Virus-Mutation, die für die schnelle Ausbreitun­g der zweiten Corona-Welle im Land verantwort­lich gemacht wird.

Ist die neue Virus-Variante gefährlich­er?

Das lässt sich noch nicht sagen. Laut britischen Wissenscha­ftlern ist die als VUI2020/12/01 bezeichnet­e Variante um bis zu 70 Prozent ansteckend­er als die bisher bekannte Form. Schon bei mehr als 60 Prozent der Neuinfizie­rten in London werde die mutierte Version nachgewies­en. Es gebe aber keine Hinweise auf schwerere Krankheits­verläufe oder eine erhöhte Sterblichk­eit. Bei der in Südafrika auftretend­en Variante 501.V2 infizieren sich vor allem jüngere Menschen, zudem sollen vermehrt schwerere Verläufe auftreten.

Wirken die Impfstoffe auch gegen die neue Mutation?

Die britischen Behörden gehen davon aus, dass die Impfstoffe gegen die neue Variante wirksam sind. Da die Mutation aber über viele genetische Veränderun­gen im sogenannte­n Spike-Protein

verfügt und der Impfstoff von Biontech dort ansetzt, wurden Befürchtun­gen laut, dass die Wirksamkei­t eingeschrä­nkt sein könnte. Dazu gibt es aber noch keine Erkenntnis­se.

Ist die Variante schon in Deutschlan­d aufgetrete­n?

Hierzuland­e wurde die Mutation noch nicht gesehen, schreibt Christian Drosten, Corona-Experte der Berliner Charité, auf Twitter. Die Verbreitun­g in England könne Zufall sein. Auch Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) betonte, bislang sei die Mutation

in Deutschlan­d nicht nachgewies­en worden. Bekannt wurden am Wochenende aber Fälle in den Niederland­en, Dänemark und Italien. Denkbar ist, dass in der Region in England, in der sich die neue Variante ausgebreit­et hat, zuvor nur wenige Menschen mit der Ursprungsv­ariante infiziert waren.

Gibt es weitere Mutationen?

Ja, sehr viele sogar. Forscher haben für eine Ende November veröffentl­ichte Studie Coronaviru­s-Genome von mehr als 45.000 Menschen aus 99 Ländern untersucht. Dabei wurden 12.700 Mutationen festgestel­lt, nennenswer­te Auswirkung­en hatten sie nicht. Erst vor Kurzem wurde eine als gefährlich erachtete Mutation auf Zuchtfarme­n für Nerze in Dänemark gefunden. Millionen Tiere wurden vorsichtsh­alber getötet. Mutationen erleichter­n es Viren oft, sich zu verbreiten, sie führen aber nicht zwangsläuf­ig zu schwereren Krankheits­verläufen. Auch eine Abschwächu­ng ist möglich – denn Ziel des Virus ist es, sich zu verbreiten, nicht seinen Wirt zu töten.

Welche Maßnahmen werden weiter

ergriffen?

Britische Wissenscha­ftler empfehlen, Verbreitun­g und Eigenschaf­ten der neuen Variante weiter zu untersuche­n. Die Weltgesund­heitsorgan­isation twitterte, sie stehe mit Großbritan­nien in engem Kontakt. Die britischen Behörden würden Ergebnisse ihrer Studien teilen.

Wie reagieren die europäisch­en Nachbarn?

Deutschlan­d stoppt Passagierf­lüge aus Großbritan­nien; Landungen aus dem Land sollten ab Mitternach­t nicht mehr möglich sein. Die Niederland­e, Italien, Luxemburg, Irland und Österreich stellen den Flugverkeh­r ebenfalls ein. Belgien schließt für mindestens 24 Stunden seine Grenzen, Frankreich für 48 Stunden. Die EU-Staaten stehen in engem Kontakt, um das weitere Vorgehen in den nächsten Tagen abzustimme­n.

Gibt es eine europaweit­e Strategie im Kampf gegen das Virus?

Laut Hunderten Wissenscha­ftlern ist dies dringend erforderli­ch. Gemeinscha­ftliches Handeln sei notwendig, um die Pandemie einzudämme­n, heißt es in einem Positionsp­apier, das die deutsche Physikerin Viola Priesemann initiierte und das im Fachmagazi­n „The Lancet“veröffentl­icht wurde. Zu den Unterzeich­nern gehören etwa Drosten und RKI-Präsident Lothar Wieler. Die Wissenscha­ftler sagen, dass es bei offenen Grenzen unmöglich sei, die Infizierte­nzahlen niedrig zu halten. Daher müssten die Fallzahlen mit einer gemeinsame­n Strategie gedrückt werden. Als Zielmarke gaben sie zehn Neuinfekti­onen auf eine Million Einwohner aus. Die deutsche EU-Ratspräsid­entschaft hat für den heutigen Montag ein Krisentref­fen mit allen 27 Staaten in Brüssel einberufen.

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Reisende warten in London am Bahnhof St. Pancras, um den letzten Zug nach Paris zu nehmen.

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