Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Fußballfans kontra Stadionallianzen
Fan-Verbände vermuten hinter den Initiativen von Innenministerium und Vereinen einen politischen Deal.
DÜSSELDORF Der Fußball erfährt in Pandemie-Zeiten einen herben Bedeutungsverlust. Leere Stadien, keine Stimmung. Umso mehr sehnen viele den Moment herbei, wenn sich die Arenen wieder mit Leben und Emotionen füllen. In Nordrhein-Westfalen dürfte bei einigen Fans die Vorfreude auf die Rückkehr aber etwas getrübt sein. Denn Innenminister Herbert Reul präsentierte Mitte September mit Vertretern der neun NRW-Bundesligisten aus erster und zweiter Liga eine Vereinbarung, die die Sicherheit an Spieltagen erhöhen soll.
Die „Stadionallianzen gegen Gewalt“sind ein Schulterschluss zwischen Klubs und lokalen Polizeibehörden, gestehen aber vor allem den Beamten weitreichende Mitsprache im Umgang mit Fans zu. „Wir gehen damit ein seit Jahrzehnten bestehendes Problem an. Ich hoffe, dass wir heute den Anfang vom Ende dieser Auswüchse rund um Fußballspiele erleben. Wir akzeptieren nicht, dass uns die schönste Nebensache der Welt von Hooligans, Rassisten und Chaoten kaputtgemacht wird“, formulierte Reul drastisch.
„Die Stadionallianzen gehen von einem Szenario aus, das nichts mit der Realität zu tun hat. Ein Gewaltproblem ist nicht belegbar“, sagt Thomas Kessen von „Unsere Kurve“, einem Bündnis aktiver Fanszenen. Über ein Jahr lang wurde ein Vertrag ausgearbeitet ohne Fan-Gremien zu informieren oder einzubeziehen. Fortuna Düsseldorf, Bayer Leverkusen und Borussia Mönchengladbach geben an, ihre Anhänger über „die Absicht der Verschriftlichung“in Kenntnis gesetzt zu haben. Wie aus Fankreisen zu hören ist, geschah das an fast allen Standorten erst wenige Tage vor dem Termin im Fußballmuseum. „Fanhilfen, Fanprojekte, Fanszenen – keiner wusste davon“, sagt der Dortmunder Fananwalt Stefan Witte unserer Redaktion.
Doch woran stoßen sich die Fans inhaltlich so sehr? Es geht vor allem um zwei Punkte im elfseitigen Sicherheitspapier: Zum einen ist da die „Distanzierung“von „diffamierenden Meinungsäußerungen“, wonach die Polizeibehörden den jeweiligen Verein dazu bringen können, auf Proteste seiner Anhänger zu reagieren, auch wenn diese nicht strafrechtlich relevant sind. „Das ist ein herber Schlag für die Meinungsfreiheit im Stadion und beschneidet Fankultur“, findet Witte. Für die Ultras, die sich als kritische Betrachter des Profifußballs sehen und Missstände
durch Banner, Spruchbände oder Gesänge im Stadion öffentlich anprangern, ist das ein rotes Tuch. Sie befürchten, dass die Polizei künftig die Grenze des Sagbaren im Stadion bestimmen und Übertretungen sanktionieren könnte. Das Innenministerium besänftigt: Es sei nicht vorgesehen, dass die Polizei hier die Deutungshoheit erlange. Die Vereine betonen unisono: Man werde auch künftig souverän eigene Entscheidungen treffen.
Zum anderen soll es bei der Vergabe von Stadionverboten für auffällig gewordene Fans nun „Vorbesprechungen“zwischen Polizei und Klubs geben. In den vergangenen Jahren haben die Bundesligisten Gremien etabliert, die den Beschuldigten ein Anhörungsrecht zugestehen. Zudem sitzen in diesen Gremien neben Vereins- und Fanvertretern auch Sozialpädagogen, die versuchen, über alternative Strafen gerade Jugendliche gesellschaftlich aufzufangen. Diese Entwicklung werde nun konterkariert, erklärt Witte.
Durch die Stadionallianzen könnten die Behörden eine Entscheidung beeinflussen, die nach dem Hausrecht den Vereinen obliege. Die Polizei gibt nicht nur bereits vor der Anhörung eine Empfehlung im jeweiligen Fall ab, sondern stellt den Vereinen personenbezogene Informationen
aus geheimen Datensammlungen zur Verfügung. Fan-Dateien, die in Niedersachsen und Berlin für rechtswidrig erklärt worden seien, so der Fananwalt. Zudem muss die Polizei über den „Verlauf der Anhörung“informiert werden. Die Kommissionen könnten obsolet werden, wenn Fans aus Angst, dass ihre Äußerungen bei den Behörden landen, gar nicht mehr vorstellig werden.
In einer Mitteilung begründet Reuls Ministerium die Stadionallianzen mit einer „stetig wachsenden Gewaltbereitschaft“beim Fußball, und verweist auf den Bericht 2018/19 der Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS) für die ersten drei Ligen. Dort zeigt sich aber ein Rückgang zur Vorsaison in fast allen Bereichen: Sieben Prozent weniger Verletzte, elf Prozent weniger Strafverfahren, 31 Prozent weniger Stadionverbote. Das Innenministerium führt auf Anfrage die Aussagen des ZIS-Leiters Torsten Juds an: Man bewege sich noch immer „auf hohem Niveau“. Bundesweit wurden in jenem Zeitraum von 22 Millionen Stadionbesuchern 1127 Personen verletzt – davon 183 durch Pfefferspray.
Vereine wie Borussia Dortmund, Gladbach, Bayer und Fortuna weisen auf Nachfrage eine zunehmende Gewaltbereitschaft unter den eigenen
Stefan Witte Fananwalt Anhängern zurück.
Doch warum sind die Vereine die Stadionallianzen überhaupt eingegangen? Man habe die bereits funktionierende Zusammenarbeit mit der Polizei stärken und erstmals schriftlich festhalten wollen, heißt es von den Vereinen. Tatsächlich aber spielte wohl ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom März 2019 eine Rolle, wonach die Vereine bei Hochrisikospielen an den Polizeikosten beteiligt werden können. Von Bayer und Gladbach heißt es, man habe versucht, „Lösungen zur Verhinderung von Gewalt zu finden, statt Polizeikosten in Rechnung zu stellen“, Fortuna erklärt, der Vertrag sei „ein klares Argument gegen die Übernahme der Polizeikosten“. Der FC Schalke führt das Urteil als einen Anstoß für die Stadionallianzen auf. Wie von mehreren Seiten zu hören ist, soll der Vertrag zunächst umfangreicher gewesen, von den Klubs aber abgeschwächt worden sein.
Das Innenministerium erhofft sich, dass „auch Kosten für Polizeieinsätze gesenkt werden können“. Doch wie das gelingen soll, lässt das Papier gänzlich offen. Vielmehr noch: Dieses Ziel wird mit keinem Wort erwähnt. Tatsächlich habe man sich von den Stadionallianzen aus Baden-Württemberg inspirieren lassen, heißt es von Gladbacher Seite. Die gibt es seit 2017 und sie sind ein voller Erfolg. In der Saison 2017/18 konnten laut DFL 25.000, im Jahr danach zusätzliche 4500 Einsatzstunden eingespart werden bei gleichzeitigem Rückgang der Verletztenzahlen. Der Unterschied: Fanszenen und Fanprojekte saßen von Anfang an gemeinsam mit DFL und Polizei am Tisch.
Konfrontation und Kriminalisierung statt Dialog und ein gemeinsames Korrektiv, so empfinden viele Fans die Stadionallianzen und fühlen sich auch von ihren Vereinen hintergangen. BVB-Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke versprach im September, nachträglich auf die Fans zugehen zu wollen. In Dortmund wurden auch bereits zwei Treffen anberaumt, corona-bedingt aber vorerst verschoben. Von Anhängern aus Gelsenkirchen, Bielefeld und Bochum ist zu hören, dass es noch nicht mal Kontakt gab, Schalke verspricht, das mit Abflachen der Pandemie nachzuholen.
„Das ist ein herber Schlag für die Meinungsfreiheit im Stadion“