Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
„Fürchtet euch nicht!“
In der Weihnachtsgeschichte macht ein Engel den verunsicherten Hirten Mut. Ist das eine Botschaft, die in diesem Corona-Jahr auch uns dienlich ist?
Wohl noch zu keinem Jahresende hat eine Bibelstelle aus der Weihnachtsgeschichte so sehr unseren Wunsch nach Normalität getroffen wie diesmal: „Fürchtet euch nicht!“Ein Engel spricht diesen Satz. Und adressiert ist er an Hirten auf dem Felde, die nachts nahe dem Stall lagern, in dem Jesus geboren wird. Beim Evangelisten Lukas heißt es: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.“
Doch unsere Furcht ist im Corona-Jahr vielfach begründet: vor allem mit der Sorge um unsere Gesundheit und die unserer Mitmenschen, um den Arbeitsplatz, unsere Freiheit und mehr. So würde dann der Bericht des Evangelisten nur ein passendes Stichwort liefern zu vielen anderen, ebenso geeigneten. Wäre da nicht auch die Frage, warum die Hirten vor 2000 Jahren überhaupt von Furcht ergriffen waren? Von großer Freude ist doch die Rede! Und sind Engelsgestalten – zumindest so, wie wir sie uns lieblich ausmalen mit ihren zwei großen, weißen Flügeln – tatsächlich so furchteinflößend?
Doch das sind die falschen Fragen, weil das Gefühl der Furcht gar nicht begründet sein muss. Sie richtet sich auf konkrete Situationen, die vermeintlich gefährlich sind – und auf die wir körperlich reagieren. Flucht oder Kampf sind die beiden dominanten Verhaltensmuster mit lebenswichtigen, manchmal auch lebensrettenden Reaktionen. Die Furcht soll im ältesten Teil unseres Gehirns beheimatet sein; eine Art Krisenmanager, der uns – wenn alles klappt – zu körperlichen Höchstleistungen befähigt.
Für die Hirten käme als Ursache das ganz und gar Ungewöhnliche und Unbekannte in Betracht: die Gestalt des Engels nämlich und das helle Licht. Und dann seine unglaubliche Botschaft: dass Gott Mensch geworden sein soll. Wobei der Engel selbst schon eine Botschaft ist. Er weist auf einen personalen Gott hin, der ihn erschaffen hat. Der Engel ist der Mittler zwischen Gott und dem Menschen, als Verkündigungsengel eine Art Adapter. Das heißt dann auch: Die Existenz des Engels ist der Beweis für die Existenz Gottes. Und die Furcht der Hirten wäre somit auch eine Gottesfurcht. Wenn wir von sogenannten gottesfürchtigen Menschen sprechen, ist weniger eine Art Angst gemeint, sondern eher, dass der Betreffende versucht, ein „gottgefälliges“Leben zu führen. Gottesfurcht ist dann weniger etwas Bedrohliches; sie ist ein Zeichen von Respekt, von Ehr-Furcht.
Vielleicht ist auch die Furcht der Hirten auf diese Weise zu verstehen. Wenn – neben dem unmittelbaren Schrecken über die Erscheinung – ihr Verhalten zum Ausdruck ihres Glaubens wird.
Die Bibel jedenfalls ist voll von Hinweisen, Ermahnungen und Ermunterungen, sich nicht fürchten zu müssen und zu sollen. Das gilt sogar für die Mutter Gottes, als ihr der Erzengel Gabriel erscheint. Auch bei dieser Begegnung heißt es: „Fürchte dich nicht, Maria! Denn du hast Gnade bei Gott gefunden.“Den verängstigten Jüngern sagt der auferstandene Jesus: „Fürchtet euch nicht! Geht, sagt meinen Brüdern, sie sollen nach Galiläa kommen! Dort werden sie mich sehen.“Und auch als Jesus auf dem Meer wandelt, ist Beruhigung unter den Beobachtern angebracht: „Habt keine Angst! Ich bin es doch, fürchtet euch nicht!“
Ist alle Gottesfurcht also mehr oder weniger eine hysterische Überreaktion von uns Menschen? Unsere Antwort auf das, was wir mit unserem Verstand nicht fassen können? Furcht aber ist nicht allein Abwehr und Abkehr von dem, was uns den Schrecken einjagt. Wer sich fürchtet, stellt sich der Ursache. So hat es der Philosoph Hans Jonas mit einer Art Ethik der Furcht beschrieben. Die Furcht manipuliert uns nicht, sie appelliert an uns, vorsichtig zu sein. Die Erfahrung der Furcht ist mit dem Aufruf zur Zurückhaltung verbunden. Das klingt in unserer Gesellschaft, die vor allem auf Tätigkeit beruht und auf Aktion angelegt ist, zunächst zu passiv, irgendwie zu konservativ. In der Tat ist eine Folge von Furcht nicht so sehr der Blick in die weite Zukunft, sie konzentriert sich zuerst auf die Gegenwart, auf das, was ist: hier und jetzt.
Ist dann der Ausruf, sich nicht zu fürchten, wirklich so ein geeignetes Motto für dieses Jahr? Virologen und Politiker mühen sich doch, so weit wie irgend möglich nach vorne zu schauen und Perspektiven fürs nächste Frühjahr und sogar das ganze nächste Jahr zu eröffnen! Das produziert fortwährend Aufgeregtheiten, Meinungen, Widerrufe. Wir sind süchtig nach Zukunft. In ihr scheint sich unsere Freiheit zu manifestieren. Doch manchmal hilft auch das Vertrauen: in uns Menschen, in die Gesellschaft, in Gott und jene, die uns die Hand reichen und uns zurufen: „Fürchtet euch nicht!“