Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Warum Kalorienzählen von gestern ist
Mediziner Stephan Martin schrieb ein Buch mit der Kernbotschaft „Insulin ist das Übel aller Gewichtsprobleme“.
DÜSSELDORF Er begleitet verlässlich den Start ins neue Jahr: der Vorsatz, endlich abzunehmen. Menschen mit Übergewicht (gefühltem wie tatsächlichem) probieren neue Diäten, zählen Kalorien, reduzieren Fett – und scheitern letztendlich doch wieder. „Kalorienzählen ist von gestern“, sagt Stephan Martin. Der Leiter des Westdeutschen Diabetes-und Gesundheitszentrums plädiert auf der Basis wissenschaftlicher Studien für ein radikales Umdenken in der Ernährung – und spart dabei nicht mit provokanten Äußerungen. Nun hat er sein Wissen in einem Buch publiziert. Kernbotschaft: „Insulin ist das Übel aller Gewichtsprobleme.“
Dabei will der Mediziner nicht in die Lifestyle-Ecke gerückt werden. „Mit geht es nicht um kosmetische Probleme, also darum, ob jemand ein paar Kilo zu viel auf den Rippen hat, aber dabei gesund ist.“Deshalb wird in seinem Buch, das er gemeinsam mit der Biologin Kerstin Kempf und der Sportwissenschaftlerin Julia Rommelfanger verfasst hat, das Wort „Diät“vermieden. Er plädiert bei Übergewicht für eine grundsätzliche Veränderung der Essgewohnheiten, denn mit jedem überschüssigen Kilo steige das Risiko für Bluthochdruck, Diabetes, Gelenkund Tumorerkrankungen. Im Fokus seiner Methode steht dabei das Insulin, „das einzige Hormon im Körper, das die Fettverbrennung blockiert“.
Bei Insulin denkt zunächst jeder an Diabetes. „Aber Insulin macht auch jene dick, die keinen Diabetes haben“, sagt Stephan Martin. Dabei ist dieses Hormon einerseits lebensnotwendig. Es wirkt wie ein Treibstoff, schleust Glukose (Traubenzucker) aus dem Blut in die Körperzellen und versorgt sie mit Energie. Andererseits: Überschüssige Glukose wird in der Leber in Fett umgewandelt – „und das führt zu Übergewicht“. Dabei treibe nicht nur Zucker den Insulinspiegel hoch, auch künstliche Süßstoffe und Emulgatoren (wie in Fertiggerichten) hätten dieselbe fatale Wirkung und seien wahre Dickmacher, „vor allem in Verbindung mit Kohlehydraten“.
Den Zusammenhang kann er im Schlaf erläutern: Hauptbestandteil kohlehydratreicher Nahrungsmittel ist Stärke, also lange Ketten, auf denen Traubenzuckermoleküle wie Perlen aufgereiht sind. Im Darm werden diese in Sekundenschnelle aufgespalten und treiben den Insulinspiegel in die Höhe. „Und das funktioniert beispielsweise mit Kartoffelpüree schneller als mit Haushaltszucker“, so der Wissenschaftler. Deshalb ist oberstes Gebot seiner „Low-Insulin-Methode“: auf stärkehaltige Lebensmittel verzichten, also auf Brot (egal ob Brötchen oder Vollkornbrot), Reis, Nudeln Kartoffeln. Und Süßigkeiten, Pizza und Bier (auch alkoholfrei) seien selbstverständlich tabu. „Viele Menschen glauben der Werbung, dass nach dem Joggen ein alkoholfreies Bier die verbrauchten Elektrolyte ersetzt. Doch darin ist Malzzucker enthalten, das lässt den Insulinspiegel steigen, und die Fettverbrennung wird blockiert.“
Solche Ratschläge schmecken nicht allen, so greift Stephan Martin explizit die Lebensmittelindustrie an, die in ihren Fertigprodukten Süßstoffe und Emulgatoren einsetzt und den Markt mit einer Vielzahl fettreduzierter (und überteuerter)
Lebensmittel überschwemme. „Da wird dann Fett durch Kohlehydrate und Zucker ersetzt, was wiederum den Insulinspiegel hochtreibt.“Den Kunden würde suggeriert, dass sie sich etwas Gutes tun, „genau das Gegenteil wird erreicht“. Der Mediziner kritisiert, dass „über Jahre weltweit eine Hysterie gegen Fette“aufgebaut wurde, dabei hätten wissenschaftliche Studien längst bewiesen, dass vor allem pflanzliche Fette vor Herzinfarkt und Schlaganfall schützen.
Für alle, die bei der Low-Insulin-Methode auf Brot nicht ganz verzichten wollen, hat er einen Rat: „Greifen Sie zu Eiweißbrot.“Und den Brotkorb, der im Restaurant vor dem Essen gereicht wird, sollte man
ignorieren. Man könne den Körper außerdem mit Tricks überlisten: Reis, Nudeln oder Kartoffeln am Vortag kochen und aufwärmen. „Dann verklumpt die Stärke und kann von den Zellen nicht aufgenommen werden.“Sein Buch transportiert jede Menge Erkenntnisse, wie zum Beispiel, dass Stress und Schlafmangel den Insulinspiegel ansteigen lassen. Und gibt neben Rezepten praktische Tipps. Denn wer hätte gedacht, dass nach einer Portion Spaghetti Zimt die Insulinausschüttung drosselt, dass Bohnen, Pistazien und Kurkuma eine ähnliche Wirkung zugeschrieben wird. Und dass auch eine Tasse Kaffee beim Abnehmen hilft – nur auf Milch und Zucker sollte man dann verzichten.