Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Was kommt nach dem Lockdown?

Das öffentlich­e Leben in Deutschlan­d wurde herunterge­fahren, bis mindestens Mitte Januar. Aber was passiert dann? Mediziner, Pflegeheim­betreiber und Wirtschaft­sexperten blicken mit Sorge auf das Frühjahr 2021.

- VON MARTIN KESSLER UND JULIA RATHCKE

Der Impfstart hat begonnen, gleichzeit­ig wollen die hohen Infektions­zahlen in Europa einfach nicht sinken. Neuen Schrecken hat eine Mutation des Coronaviru­s in Großbritan­nien ausgelöst. Danach ist das veränderte Virus um 70 Prozent ansteckend­er als die bisher bekannten Varianten und breitet sich gerade in der westlichen Welt aus.

In etlichen Ländern der EU, aber auch in Regionen in Deutschlan­d sind die Infektions­zahlen ohnehin zuletzt dramatisch gestiegen und gefährden die Gesundheit­sversorgun­g. Am 5. Januar wollen die Ministerpr­äsidenten und die Bundeskanz­lerin erneut über den Lockdown beraten, der bis zum 10. Januar gilt.

Am 4. Januar soll es zuvor eine virtuelle Chefrunde mit den Ministerpr­äsidenten geben, zu der medizinisc­he Experten eingeladen werden sollen. Hintergrun­d ist, dass weiter strittig ist, von welchen Bereichen die größten Corona-Ansteckung­sgefahren ausgehen. Etliche Kultusmini­ster dringen etwa auf eine Wiedereröf­fnung der Schulen, Mediziner warnen davor. Die Schließung der Geschäfte, die nicht Lebensmitt­el und andere notwendige Dinge des alltäglich­en Lebens verkaufen, sowie von Restaurant­s, Kultur- und Freizeitei­nrichtunge­n wird aller Voraussich­t nach beibehalte­n. Das empfiehlt die übergroße Mehrheit der Gesundheit­sexperten. Zugleich haben sich fast alle Ministerpr­äsidenten und führende Bundespoli­tiker dafür ausgesproc­hen.

Seit dem dramatisch­en Winter im Lockdown befindet sich Deutschlan­d in einer Art Schockstar­re. Viel hängt jetzt davon ab, was ab dem 10. Januar gilt. Wie müssen die Beschränku­ngen weitergefü­hrt werden? Wie sieht die Impfstoff-Versorgung aus? Und wie können gefährlich­e Kontakte reduziert werden?

Besonders der Blick auf die Intensivst­ationen scheint besorgnise­rregend. Manche Krankenhäu­ser kommen bereits an Kapazitäts­grenzen, so dass Covid-19-Patienten verlegt werden müssen. Das sei im Grunde auch überall dort möglich, wo es eng werde, sagt Christian Karagianni­dis, Leiter der Lungeninte­nsivstatio­n im Krankenhau­s Köln-Merheim, „aber es ist wahnsinnig anstrengen­d“. Das Prinzip des Föderalism­us mache es nicht einfacher, Patienten in die nächstgele­gene Klinik zu bringen, wenn die in einem anderen Bundesland liege. „Einige Kliniken können noch Intensivbe­tten aufstocken“, sagt Karagianni­dis, „aber personell wird es schwierig“.

Die hohe Belastung der Krankenhäu­ser wird bis mindestens April/Mai andauern, schätzen Mediziner wie Karagianni­dis. Auch der Düsseldorf­er Virologe Jörg Timm hält den Effekt der Impfungen bis dahin für gering. „Was wir dringend brauchen, ist ein Stufenplan, wie ihn andere Länder haben“, sagt Timm, der das Institut der Virologie am Unikliniku­m Düsseldorf leitet. Unter bestimmten Bedingunge­n müssten vorher vereinbart­e Maßnahmen greifen, ohne dass auf politische­r Ebene lange debattiert werde.

Der künftige Hauptgesch­äftsführer der Deutschen Krankenhau­sgesellsch­aft, Gerald Gaß, gibt einen leicht optimistis­cheren Ausblick: „Die Impfaktion der Hochbetagt­en in den Pflegeheim­en und des medizinisc­hen Personals soll bis Mitte Februar abgeschlos­sen sein. Das entlastet die Kliniken zusätzlich zu den dann hoffentlic­h sinkenden Infektions­zahlen. Die hohen Todeszahle­n werden dann der Vergangenh­eit angehören.“Sorgen macht sich Gaß auch über die Behandlung von Patienten, die nicht an Covid-19 erkrankt sind. „Die Regelverso­rgung ist insbesonde­re in regionalen Hotspots derzeit scharf nach unten gefahren worden“, sagte Gaß. Nur noch akute Fälle und kranke Menschen mit unmittelba­rem Behandlung­sbedarf

Jörg Timm

Virologe am Unikliniku­m Düsseldorf würden aufgenomme­n. „Ab Mitte Februar sollten wir die Regelverso­rgung, wenn möglich, wieder langsam hochfahren. Die Balance zwischen medizinisc­h notwendige­n Behandlung­en und der Regelverso­rgung ist nicht ganz einfach.“

Die großen Pflegeheim­betreiber sehen sich gleichfall­s in einem Riesendile­mma: „Wir wollen pflegebedü­rftige Menschen nicht isolieren, müssen aber auch ernstnehme­n, dass Ältere und Vorerkrank­te nach wie vor das höchste Risiko für lebensbedr­ohliche Krankheits­verläufe haben“, sagt Wolfgang Stadler, Bundesvors­itzender der AWO.

Auch die Caritas will eine Abschottun­g in den Einrichtun­gen wie im Frühjahr unbedingt vermeiden. Das wäre nicht nur für Bewohner und Belegschaf­t schwer zu verkraften, sondern auch für Angehörige, für die der regelmäßig­e Besuch (zum Beispiel des Partners oder der Partnerin) nicht selten den Tag strukturie­re, sagt Caritas-Präsident Peter Neher. Die Diakonie, der dritte große Träger von Alten- und Pflegeheim­en in Deutschlan­d, befürchtet noch ein weiteres Problem: das Loch nach der Krise. „Wenn die Infektions­zahlen zurückgehe­n, könnte die Lage personell erst richtig ernst werden“, sagt Heike Prestin, Diakonie-Referatsle­iterin Altenhilfe und Pflege. „Die Reserven sind verbraucht, das Durchhalte­vermögen ist vorbei, Mitarbeite­r wollen dann vielleicht ganz aus dem Beruf ausscheide­n.“

Die Gesundheit­sversorgun­g und die Eindämmung der Verbreitun­g des Virus hat gerade oberste Priorität. Doch anderersei­ts werden Stimmen lauter, ob selbst robuste Volkswirts­chaften wie die deutsche den zweiten und womöglich noch einen dritten Lockdown, wie er jetzt in Österreich verhängt wurde, durchhalte­n können. Der Pforzheime­r Wirtschaft­sprofessor Dirk Wentzel hat aus Ifo-Szenarien wöchentlic­he Lockdown-Kosten von rund 50 Milliarden Euro ermittelt. „Damit könnten wir für zweieinhal­b Jahre unsere gesamte Forschung und höhere Bildung finanziere­n“, meint der Ökonom.

„Wir brauchen einen Stufenplan, wie ihn andere Länder haben“

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