Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Was kommt nach dem Lockdown?
Das öffentliche Leben in Deutschland wurde heruntergefahren, bis mindestens Mitte Januar. Aber was passiert dann? Mediziner, Pflegeheimbetreiber und Wirtschaftsexperten blicken mit Sorge auf das Frühjahr 2021.
Der Impfstart hat begonnen, gleichzeitig wollen die hohen Infektionszahlen in Europa einfach nicht sinken. Neuen Schrecken hat eine Mutation des Coronavirus in Großbritannien ausgelöst. Danach ist das veränderte Virus um 70 Prozent ansteckender als die bisher bekannten Varianten und breitet sich gerade in der westlichen Welt aus.
In etlichen Ländern der EU, aber auch in Regionen in Deutschland sind die Infektionszahlen ohnehin zuletzt dramatisch gestiegen und gefährden die Gesundheitsversorgung. Am 5. Januar wollen die Ministerpräsidenten und die Bundeskanzlerin erneut über den Lockdown beraten, der bis zum 10. Januar gilt.
Am 4. Januar soll es zuvor eine virtuelle Chefrunde mit den Ministerpräsidenten geben, zu der medizinische Experten eingeladen werden sollen. Hintergrund ist, dass weiter strittig ist, von welchen Bereichen die größten Corona-Ansteckungsgefahren ausgehen. Etliche Kultusminister dringen etwa auf eine Wiedereröffnung der Schulen, Mediziner warnen davor. Die Schließung der Geschäfte, die nicht Lebensmittel und andere notwendige Dinge des alltäglichen Lebens verkaufen, sowie von Restaurants, Kultur- und Freizeiteinrichtungen wird aller Voraussicht nach beibehalten. Das empfiehlt die übergroße Mehrheit der Gesundheitsexperten. Zugleich haben sich fast alle Ministerpräsidenten und führende Bundespolitiker dafür ausgesprochen.
Seit dem dramatischen Winter im Lockdown befindet sich Deutschland in einer Art Schockstarre. Viel hängt jetzt davon ab, was ab dem 10. Januar gilt. Wie müssen die Beschränkungen weitergeführt werden? Wie sieht die Impfstoff-Versorgung aus? Und wie können gefährliche Kontakte reduziert werden?
Besonders der Blick auf die Intensivstationen scheint besorgniserregend. Manche Krankenhäuser kommen bereits an Kapazitätsgrenzen, so dass Covid-19-Patienten verlegt werden müssen. Das sei im Grunde auch überall dort möglich, wo es eng werde, sagt Christian Karagiannidis, Leiter der Lungenintensivstation im Krankenhaus Köln-Merheim, „aber es ist wahnsinnig anstrengend“. Das Prinzip des Föderalismus mache es nicht einfacher, Patienten in die nächstgelegene Klinik zu bringen, wenn die in einem anderen Bundesland liege. „Einige Kliniken können noch Intensivbetten aufstocken“, sagt Karagiannidis, „aber personell wird es schwierig“.
Die hohe Belastung der Krankenhäuser wird bis mindestens April/Mai andauern, schätzen Mediziner wie Karagiannidis. Auch der Düsseldorfer Virologe Jörg Timm hält den Effekt der Impfungen bis dahin für gering. „Was wir dringend brauchen, ist ein Stufenplan, wie ihn andere Länder haben“, sagt Timm, der das Institut der Virologie am Uniklinikum Düsseldorf leitet. Unter bestimmten Bedingungen müssten vorher vereinbarte Maßnahmen greifen, ohne dass auf politischer Ebene lange debattiert werde.
Der künftige Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, gibt einen leicht optimistischeren Ausblick: „Die Impfaktion der Hochbetagten in den Pflegeheimen und des medizinischen Personals soll bis Mitte Februar abgeschlossen sein. Das entlastet die Kliniken zusätzlich zu den dann hoffentlich sinkenden Infektionszahlen. Die hohen Todeszahlen werden dann der Vergangenheit angehören.“Sorgen macht sich Gaß auch über die Behandlung von Patienten, die nicht an Covid-19 erkrankt sind. „Die Regelversorgung ist insbesondere in regionalen Hotspots derzeit scharf nach unten gefahren worden“, sagte Gaß. Nur noch akute Fälle und kranke Menschen mit unmittelbarem Behandlungsbedarf
Jörg Timm
Virologe am Uniklinikum Düsseldorf würden aufgenommen. „Ab Mitte Februar sollten wir die Regelversorgung, wenn möglich, wieder langsam hochfahren. Die Balance zwischen medizinisch notwendigen Behandlungen und der Regelversorgung ist nicht ganz einfach.“
Die großen Pflegeheimbetreiber sehen sich gleichfalls in einem Riesendilemma: „Wir wollen pflegebedürftige Menschen nicht isolieren, müssen aber auch ernstnehmen, dass Ältere und Vorerkrankte nach wie vor das höchste Risiko für lebensbedrohliche Krankheitsverläufe haben“, sagt Wolfgang Stadler, Bundesvorsitzender der AWO.
Auch die Caritas will eine Abschottung in den Einrichtungen wie im Frühjahr unbedingt vermeiden. Das wäre nicht nur für Bewohner und Belegschaft schwer zu verkraften, sondern auch für Angehörige, für die der regelmäßige Besuch (zum Beispiel des Partners oder der Partnerin) nicht selten den Tag strukturiere, sagt Caritas-Präsident Peter Neher. Die Diakonie, der dritte große Träger von Alten- und Pflegeheimen in Deutschland, befürchtet noch ein weiteres Problem: das Loch nach der Krise. „Wenn die Infektionszahlen zurückgehen, könnte die Lage personell erst richtig ernst werden“, sagt Heike Prestin, Diakonie-Referatsleiterin Altenhilfe und Pflege. „Die Reserven sind verbraucht, das Durchhaltevermögen ist vorbei, Mitarbeiter wollen dann vielleicht ganz aus dem Beruf ausscheiden.“
Die Gesundheitsversorgung und die Eindämmung der Verbreitung des Virus hat gerade oberste Priorität. Doch andererseits werden Stimmen lauter, ob selbst robuste Volkswirtschaften wie die deutsche den zweiten und womöglich noch einen dritten Lockdown, wie er jetzt in Österreich verhängt wurde, durchhalten können. Der Pforzheimer Wirtschaftsprofessor Dirk Wentzel hat aus Ifo-Szenarien wöchentliche Lockdown-Kosten von rund 50 Milliarden Euro ermittelt. „Damit könnten wir für zweieinhalb Jahre unsere gesamte Forschung und höhere Bildung finanzieren“, meint der Ökonom.
„Wir brauchen einen Stufenplan, wie ihn andere Länder haben“