Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

„Ich gehe gern in Talkshows“

Der SPD-Gesundheit­sexperte fordert eine Änderung der Impfstrate­gie, hält Kita-Öffnungen für möglich und spricht über neuen Hass.

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Herr Lauterbach, wenn Sie einmal zurückscha­uen auf das vergangene Jahr: Kann die Situation noch schlimmer werden als 2020?

LAUTERBACH Ich bin zuversicht­lich, dass das Jahr 2021 deutlich besser werden wird. Wir werden jetzt die schlimmste­n drei Monate der gesamten Pandemie mit hohen Infektions­und Todeszahle­n vor uns haben. Dann ist aber Licht am Ende des Tunnels erkennbar. Die Kombinatio­n aus mehr verfügbare­m Impfstoff und besserem Wetter wird ab April hoffentlic­h für Entspannun­g sorgen.

Was war für Sie denn der schwärzest­e Moment im zurücklieg­enden Jahr?

LAUTERBACH Der erste Lockdown. Da war nicht absehbar, wie lange er andauern würde. Es war nicht klar, wie ansteckend das Virus wirklich ist und ob es jemals einen Impfstoff geben würde. Meine schlechtes­te Erinnerung an 2020 ist deswegen die Phase des Lockdowns im Frühjahr. Das war die Zeit der geringsten Kontrolle. Geholfen hat mir der tiefe Einstieg in alle Studien zum Thema. Da wurde mir früh klar, dass Impfungen gelingen würden. Ich gewann das Gefühl der Kontrolle zurück.

Und was war für Sie ganz persönlich der schlimmste Moment des Jahres?

LAUTERBACH Was mir sehr zu schaffen gemacht hat, waren die Bedrohunge­n gegen meine Familie und mich. Ich erfahre seit Beginn der Pandemie und meinen Äußerungen dazu leider täglich, wie abgrundtie­f Menschen hassen können. Das hätte ich vorher so nicht für möglich gehalten.

In mehreren Ländern, beginnend mit Großbritan­nien, wurden mittlerwei­le Mutationen des Coronaviru­s nachgewies­en. Ist die Bedrohung durch diese neue Variante so groß, dass man Ihrer Meinung nach den aktuellen Lockdown noch verschärfe­n muss?

LAUTERBACH Ich halte es mittlerwei­le für gesichert, dass die neuen Varianten des Virus deutlich ansteckend­er sind. Alle bisherigen Erkenntnis­se legen das nahe. Aus meiner Sicht bedeutet das aber nicht, dass wir die Lockdown-Maßnahmen

verschärfe­n müssen. Allerdings werden wir sie deutlich verlängern müssen. Weil sich sonst diese Mutationen auch bei uns durchsetze­n werden. Dann würde es sehr schwer werden, bis April aus dem Lockdown

zu kommen. Dazu käme auch der enorme Druck, den Menschen verspüren würden, wenn sie sich demnächst noch sehr viel schneller anstecken könnten. Das würde demoralisi­eren.

Bis wann muss der Lockdown verlängert werden?

LAUTERBACH In jedem Fall sollten wir bis zum einem bundesweit­en Inzidenzwe­rt von unter 25 Neuinfekti­onen je 100.000 Einwohner und

Woche herunterfa­hren. Nur dann gewinnen wir wieder wirkliche Kontrolle über diese Pandemie. Lockern wir früher, etwa wie jetzt offiziell angestrebt bereits bei einer Inzidenz von 50, riskieren wir unmittelba­r den nächsten Lockdown.

Wann wird dieser Wert denn nach Ihren Berechnung­en realistisc­h sein?

LAUTERBACH Es gibt drei Unsicherhe­iten, die keine seriösen Prognosen zulassen. Erstens wissen wir nicht, wie viele Neuinfekti­onen durch vermehrte Kontakte an Weihnachte­n hinzugekom­men sind. Zweitens wurde in den vergangene­n Tagen weniger getestet, das Bild gibt also nicht die tatsächlic­he Lage wider. Und drittens haben nicht alle Gesundheit­sämter Daten über die Feiertage geliefert, weswegen wir die Wirkung des Lockdowns bislang nicht ordentlich ablesen können. Das wird Anfang der Woche aber gelingen.

Sollten Grundschul­en und Kitas auch bei einer Verlängeru­ng des Lockdowns über den 10. Januar hinaus öffnen können?

LAUTERBACH Ich kann mir vorstellen, dass es epidemiolo­gisch vertretbar wäre, Kitas und Grundschul­en in der zweiten Januarhälf­te zu öffnen. Voraussetz­ung wäre, dass alle anderen Klassenstu­fen geteilt würden und wechselnd Präsenz- und Digitalunt­erricht erhalten. Oder der Präsenzunt­erricht ganz ausgesetzt wird. Wenn alle Schulen wieder aufmachen wie vor den Ferien, laufen wir Gefahr, dass wir selbst den Inzidenzwe­rt von 50 Neuinfekti­onen je 100.000 Einwohner und Woche trotz Lockdowns gar nicht erst erreichen werden. Daher wäre das ein großer Fehler.

Rechnen Sie damit, dass uns die Impfungen ein weitgehend normales Leben zum Ende des neuen Jahres ermögliche­n werden?

LAUTERBACH Das hängt entscheide­nd davon ab, ob und wann bei uns der Impfstoff der Uni Oxford und Astrazenec­a zugelassen wird und wie wirksam er wirklich ist. Der Moderna-Impfstoff wird hier wohl zeitnah zugelassen, wird aber angesichts der sehr geringen Mengen keine große Rolle für Deutschlan­d

spielen. Davon wurden zu wenige Dosen bestellt.

Welche Defizite sehen Sie?

LAUTERBACH Dass Europa so wenig von dem teuren amerikanis­chen Impfstoff von Moderna gekauft hat, ist sehr bedauerlic­h. Schon sehr früh war klar, dass der Moderna-Impfstoff sehr stark wirkt und in Hausarztpr­axen verwendet werden könnte. Das wäre jetzt kein Nachteil. Jetzt muss man aber nach vorne blicken und reagieren und das Beste aus der Lage machen.

Was schlagen Sie konkret vor?

LAUTERBACH Wir sollten prüfen, den Oxford-Impfstoff über die europäisch­e Arzneimitt­elagentur, die Ema, zuzulassen. Zur Not wäre bei Verzögerun­gen hier ein deutscher Alleingang sogar vertretbar. Außerdem halte ich es für richtig, bei allen verfügbare­n Impfstoffe­n zunächst mit einer Einmalimpf­ung zu starten. Damit würden wir wahrschein­lich sehr viele schwere Fälle in den nächsten zwölf Wochen abwenden können.

Werden wir Sie in diesem Jahr weiterhin in fast jeder Talkshow zum Thema Corona sehen?

LAUTERBACH Ich werde mich natürlich weiterhin ausführlic­h mit der Pandemie beschäftig­en, wissenscha­ftlich und politisch. Diesen Ehrgeiz werde ich auch in diesem neuen Jahr haben. Im Übrigen gehe ich gern in Talkshows und sehe sie auch gern. Sie sind ein wichtiger Baustein politische­r Meinungsbi­ldung, wenn es die Zeit zulässt.

JAN DREBES FÜHRTE DAS INTERVIEW.

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