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Die Letzten in Europa
Obwohl in den Niederlanden bereits jetzt rund 175.000 Impfdosen lagern, soll erst am 8. Januar mit den ersten Corona-Schutzimpfungen begonnen werden. Der Unmut im Land ist groß.
AMSTERDAM (dpa) Wir befinden uns im Monat elf der Corona-Pandemie. Ganz Europa impft. Ganz Europa? Nein, ein kleines, eigensinniges Land im Nordwesten macht noch nicht mit. Mit diesem Asterix-Klassiker beschreiben derzeit viele Niederländer das Impf-Fiasko im eigenen Land: Galgenhumor auf Holländisch. Während in allen EU-Ländern bereits seit Tagen geimpft wird, herrscht in den Niederlanden Chaos. Auch zu Beginn des neuen Jahres ist nicht klar, wer, wann und wo geimpft werden soll.
Seit Weihnachten liefert der US-Hersteller Pfizer, und inzwischen warten rund 175.000 Impfdosen in einer Lagerhalle in Oss im Südosten des Landes. Doch erst am 8. Januar sollen die ersten Menschen geimpft werden. Am 18. Januar geht es nach der Planung richtig los – gut drei Wochen später als im Rest Europas. Inzwischen vergeht den sonst so lockeren Niederländern das Witzeln, die Wut wächst.
Die Not wird immer größer. Krankenhäuser haben nicht genug Personal, sie müssen bereits Krebsoperationen absagen, Soldaten helfen. Mit einem dramatischen Appell richteten sich die Verantwortlichen der akuten Gesundheitsversorgung an die Behörden: „Schickt den Impfstoff in die Krankenhäuser, dann können wir ab Montag unsere
Mitarbeiter impfen“, sagte der Vorsitzende der Intensivmedizin, Diederik Gommers, im TV-Nachrichtenmagazin „Nieuwsuur“.
Neidisch schauen viele Niederländer auf die deutschen Nachbarn, wo der Impfbetrieb in großen Hallen laufen soll. Doch in den Behörden hatte man bisher die Organisation der Deutschen eher abschätzig beurteilt. Dass Deutschland in kurzer Zeit eine Infrastruktur aus dem Boden stampfte, wird gern als Kraftprotzerei bewertet. Die Niederländer würden das nicht mit Muskelkraft tun, sagte etwa Jaap van Delden, Chef des Impfprogramms beim Institut für Gesundheit und Umwelt (RIVM) der Zeitung „Volkskrant“: „Ich denke, dass Schlauheit wichtiger ist.“Die Antwort darauf, wie diese Schlauheit aussehen soll, blieb er schuldig.
Zum ersten Mal seit Ausbruch der Pandemie steht die Regierung von Premier Mark Rutte schwer unter Beschuss. Das Fiasko wird vor allem Gesundheitsminister Hugo de Jonge angelastet. Doch er hält einen früheren Impftermin für verantwortungslos. „Wir müssen das sorgfältig tun“, verteidigte er sich gegen zunehmende Kritik in Medien und Parlament.
Als ob alle anderen EU-Länder nicht sorgfältig seien, war die kritische Reaktion des renommierten Experten für Infektionskrankheiten, Roel Coutinho, im TV-Magazin „Nieuwsuur“. Coutinho, der selbst jahrelang Direktor des RIVM war, nannte die Impfstrategie beschämend: „Man sieht, wie groß die Not ist. Es ist wichtig, schnell anzufangen. Das müssen wir in den Niederlanden doch auch können.“
Die Ursache des Desasters ist eine Fehleinschätzung. Zu lange dachten die Behörden, die Jahrhundertoperation sei ebenso locker zu organisieren wie die jährliche Grippeschutzimpfung. Aber man hatte auf das falsche Pferd gesetzt. Nicht der Astrazeneca-Impfstoff kam als Erstes auf den Markt, sondern das Präparat von Pfizer und Biontech. Das aber ist viel weniger handlich als das Mittel der britischen Konkurrenz.
Keiner dachte daran, dass die Aufbewahrungstemperatur von minus 70 Grad problematisch sein könnte. Dabei hatte Pfizer die Behörden schon im Oktober darüber informiert. Auch das Computersystem ist noch nicht fertig, und die Mitarbeiter der Impfzentren werden erst seit dieser Woche ausgebildet. Weil das Land es aus logistischen Gründen nicht schafft, den Impfstoff in Alten- und Pflegeheime zu bringen, soll nun zuerst Pflegepersonal geimpft werden – und nicht wie in anderen Ländern die besonders gefährdete Gruppe der Alten und Kranken. Kritik weist der Gesundheitsminister de Jonge zurück: „Eine Woche mehr oder weniger macht nichts aus.“Das sehen viele anders. „Jede Woche zählt“, sagte Coutinho. „Diese Verzögerung kostet Menschenleben.“