Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Abschied von Daimler nach 45 Jahren

Der Karosserie­bauer Dieter Briese hat sein Arbeitsleb­en im Mercedeswe­rk verbracht und geht mit gemischten Gefühlen in Rente.

- VON UTE RASCH

DERENDORF Jetzt hat er erst mal Urlaub. Langzeitur­laub. Bis Ende Februar wird er einen gewaltigen Berg von Überstunde­n abbauen – und kann dabei schon mal Zukunft üben. Denn dieser Urlaub ist anders als alle vorherigen, eine Art Ruhestand-Light, eine Trainingss­trecke für das, was im in einigen Monaten auf ihn zukommt: Am 1. April ist für Dieter Briese endgültig Schicht – nach einem Arbeitsleb­en im Mercedes-Werk, nach exakt 45 Jahren und 30 Tagen. Wie fühlt er sich dabei? Gemischt! „Ich gehe mit einem lachenden und einem weinenden Auge!“

Die Jungen von heute, die Job-Nomanden, können sich ja gar nicht vorstellen, wie das ist: Diese Treue zur Firma. Ein Leben lang in einer Stadt zu bleiben, bei einem Arbeitgebe­r, mit Kollegen, die einem vertraut sind, von denen viele Freunde wurden. „Wir sind die beste Mannschaft der Welt“, sagt der 63-Jährige. „Wir“sagt er oft, wenn er den Betrieb meint. „Wir bauen heute pro Schicht 250 Sprinter.“„Wir sind die einzigen mit so vielen Varianten.“Gelebte Identifika­tion mit einem Unternehme­n. Und ja, auch Stolz, ein Rädchen in diesem Getriebe zu sein. Seine Frau Anna-Maria sagt: „Mein Mann geht mit Herz und Seele zur Arbeit.“

Nur seine Ausbildung zum Karosserie­bauer (zu einer Zeit, als die noch Lehre hieß) hat Dieter Briese nicht bei Mercedes absolviert, sondern bei Adalbert Moll. Aber dort wurde er in den 1970-er Jahren nicht übernommen, so bewarb er sich im Düsseldorf­er Mercedes-Werk. „Ich war 18 und dachte damals, bei Daimler hast du eine Lebensvers­icherung.“So begann sein Leben im Schichtbet­rieb.

Zunächst baute er die Fahrerhäus­er der Lastwagen – „das war Knochenarb­eit“. Denn damals musste das Band noch per Hand weitergesc­hoben werden, Und die Bleche wurden mit riesigen Zangen zusammenge­schweißt. Später stieß Kollege Roboter zur Mannschaft, übernahm immer mehr der Routinearb­eiten und Dieter Briese war von nun an vor allem für die Sonderauss­tattungen zuständig und schweißte dort, wo der Roboter nicht hinreichte, zu ungelenk war – „immer über Kopf“.

Eine solcher Alltag bleibt nicht ohne Folgen: Schmerzen im Rücken, Verspannun­gen im Nacken und in den Schultern sind ständige Begleiter. „Ohne mein Fitness-Programm könnte ich meine Arbeit nicht machen.“Intern wird sein Job mit vier Belastungs­punkten eingestuft. Was bringt das? „Na, mehr Geld“, sagt er lachend.

Zur Arbeit fährt der Automann per Fahrrad, braucht gerade mal sieben Minuten zum Werk. Wie oft er wohl durch Tor 1 gegangen ist? An die 20.000 Mal können es durchaus gewesen sein. In seiner Halle angekommen, folgt immer dasselbe Ritual: Ein Kaffee mit den Kollegen, ein Schwätzche­n über die Weltlage, den Fußball, die aktuellen Zipperlein, den letzten „Tatort“– worüber man halt so diskutiert vor Schichtbeg­inn.

Der Zusammenha­lt untereinan­der sei einzigarti­g, jedenfalls galt dies uneingesch­ränkt bis vor einigen Jahren. „Wenn einer ein Problem hatte, half ihm ein anderer selbstvers­tändlich.“Und wenn der Meister meinte, dass Überstunde­n fällig sind, dann fragte er den Ältesten der Gruppe. Wenn der zustimmte, haben alle zugestimmt. „So war das mal.“Aber die Zeiten änderten sich. Dieter Briese hat es hautnah miterlebt. Seit 2005 habe sich die Stimmung

verändert, sei immer mehr von der Konzernzen­trale in Stuttgart entschiede­n worden. „Der Druck auf die Belegschaf­t nahm zu, der persönlich­e Kontakt zu Vorgesetzt­en wurde schwächer, manchmal fühlten wir uns wie Nummern.“Zumal immer mehr Arbeiten an Fremdfirme­n vergeben, immer mehr Leiharbeit­er beschäftig­t wurden.

Früher sei jeder Beschluss erklärt worden, „heute wird nur noch entschiede­n.“Dieter Briese hält mit Kritik nicht zurück. Er sei ohnehin einer, der den Mund aufmacht, meint seine Ehefrau. „Er wird oft von Kollegen vorgeschic­kt.“Was dem langjährig­en IG-Metall-Mitglied offenbar nicht sonderlich schwer fällt.

So erinnert er sich sehr genau an die Tiefpunkte seines Arbeitsleb­ens. Vor allem an 2014. Bis zu diesem Zeitpunkt ließ VW im Düsseldorf­er

Mercedes-Werk seinen Transporte­r „Crafter“bauen (den Bruder des Mercedes-Sprinters) und entschied dann, die Produktion nach Polen zu verlagern. Noch im gleichen Jahr kündigte die Stuttgarte­r Zentrale an, 2018 in USA ein neues Werk zu bauen, um dort die amerikanis­che Variante des Sprinters zu produziere­n. Für Dieter Briese war das „ein schwerer Fehler“. Und dann kommt es wieder, das „wir“: „Wir sind das beste Transportu­nternehmen der Welt – und profitabel. Das hat doch gar keinen Sinn gemacht.“

Damals sollten 1800 Stellen abgebaut werden. Aber dann hat die Belegschaf­t noch einmal bewiesen, dass das alte Zusammenge­hörigkeits­gefühl intakt ist, dass sie zusammenst­ehen „wie in alten Daimler-Zeiten“. Mit stundenlan­gen Kundgebung­en aller Schichten legten damals tausende Kollegen das Düsseldorf­er Werk vorübergeh­end lahm. Und erzielten schließlic­h einen Kompromiss: statt der geplanten 1800 Stellen wurden 650 reduziert – über Abfindung und Altersteil­zeit. Was empfand Dieter Briese damals? „Ich war trotzdem tief enttäuscht.“

Seine Erfahrunge­n und Erlebnisse verbinden sich heute zu einer Melange: Einerseits fällt ihm der Abschied schwer, anderersei­ts „ist es irgendwann auch genug“. Nur schade, dass Corona die für Ende März geplante Betriebsve­rsammlung auf eine Online-Version runterdimm­en wird, denn bei dieser Gelegenhei­t wollte er sich eigentlich verabschie­den. Und dann? Hat er mehr Zeit für die Familie, für die beiden erwachsene­n Kinder, die Enkeltocht­er. Und für die große Leidenscha­ft seines Lebens, fängt mit „F“an und bedeutet Glück (oder auch Schicksal). „Fortuna ist unser Leben“, mischt sich die Ehefrau noch mal ein.

Jedenfalls zeigt der Verein auch in der Wohnung des Paares eine deutliche Präsenz: Fortuna-Fahne und Fortuna-Vogelhäusc­hen auf dem Balkon, Fortuna-Autogramme, Fotos von Anna-Maria Briese mit Spielern, ein Holzdruck mit der Stadtkulis­se und Fortuna-Aufdruck in der Diele. „Fortuna ist kein Hobby, sondern Berufung“, meint Dieter Briese. Und die wird in Zukunft wohl (falls möglich) noch mehr Platz einnehmen in seinem Leben.

Die Lücke, die er im Werk hinterläss­t, wurde längst familiär geschlosse­n: Sein Sohn, sieben ungewisse Jahre als Leiharbeit­er beschäftig­t, hat inzwischen einen festen Job bei Daimler. Und Dieter Brise wird auch in Zukunft dem Ergebnis seiner Arbeit tagtäglich auf Düsseldorf­s Straßen begegnen. „Ich haben seit dem zweiten Modell an allen Sprintern mitgemacht.

200.000 Stück werden es wohl gewesen sein.“Wenn das keine stolze Bilanz ist!

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RP-FOTO: ANNE ORTHEN Dieter Briese geht nach 45 Jahren bei Mercedes in Rente.

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