Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
„Urlauber fühlen sich fast wie Verbrecher“
Reit im Winkl ist bei vielen Menschen aus dem Rhein-Kreis als Wintersportort beliebt. Anreisen dürfen zurzeit nur Wohnungsbesitzer.
RHEIN-KREIS/REIT IM WINKL Während Winterberg im Sauerland unter dem Andrang der Winter-Touristen trotz Corona-Pandemie zuletzt ächzte, herrscht in den deutschen und österreichischen Skigebieten in den Alpen oft gähnende Leere. Nur sogenannte Zweitwohnungsbesitzer dürfen anreisen – darunter auch Familien aus Neuss, Meerbusch und Grevenbroich. „Es ist trotz Corona eine herrliche Zeit, endlich mal wieder ein Tapetenwechsel“, sagt Corinna (Name geändert). Die 48-Jährige kommt aus Neuss, will ihren richtigen Namen nicht preisgeben. „Es war schon im Sommer so, dass Urlauber teilweise wie Schwerverbrecher behandelt wurden. Unverantwortlich, muss das sein, kann man nicht mal verzichten – das durften wir uns damals anhören, auch wenn wir nur in unseren eigenen vier Wänden waren.“
Aktuell sind Corinna, ihr Mann und die Kinder in ihrer Ferienwohnung in Reit im Winkl. „Hier liegen 30 Zentimeter Schnee, die Luft ist herrlich, der Ort ist allerdings wie ausgestorben. Wir haben auch kein schlechtes Gewissen. Wir haben hier weniger Kontakte als zuhause, es gibt laut aktueller Statistik keine Corona-Infizierten in Reit im Winkl“, meint sie. Skilifte dürfen nicht in Betrieb sein, ab und an trifft die Familie beim Spazierengehen ein paar Einheimische – das wars. „Für Reit im Winkl ist das dramatisch“, sagt Bürgermeister Matthias Schlechter, „90 Prozent der Menschen leben hier in irgendeiner Form vom Tourismus. Hier hat jeder gerade Null.“Oder zumindest „fast null“.
Die Restaurants bieten auch hier Speise „to go“an, die Nachfrage allerdings ist mäßig – kein Wunder, denn aktuell sind statt 6000 Touristen bestenfalls ein paar Dutzend Zweitwohnungsbesitzer vor Ort. Für die Schließung der Skigebiete haben die Reit im Winkler wenig Verständnis. „Unser Ministerpräsident Markus Söder hat das Skifahren gleichgesetzt mit Apres Ski in Ischgl“, schimpft Gerhard Trattler. Ihm gehören sieben Sportgeschäfte und Skiverleihstationen in und um Reit im Winkl. „Da merkt man direkt: Der Söder ist kein Skifahrer. Skifahren ist gesund, mit entsprechenden Regeln wäre ein Betrieb problemlos durchführbar.“
Unterstützung kommt in dieser Hinsicht von Hans Höflinger. Er betreibt die Lifte in Deutschlands beliebtem Skigebiet auf der Winklmoosalm und der Steinplatte.
Dort, wo Olympiasiegerin Rosi Mittermaier das Skifahren gelernt hat, herrscht bis auf ein paar Tagesausflügler aus der Region gähnende Leere. „Normalerweise hätten wir gerade 10.000 Gäste pro Tag“, zuckt Höflinger mit den Schultern – täglich gehen ihm und seinen Kollegen knapp 500.000 Euro durch die Lappen. Gar Millionen sind es, die in den Kassen der Hoteliers und Vermieter in Reit im Winkl in den Weihnachtsferien fehlen. „Wir können aktuell nur liefern, nicht mal Langlaufski dürfen wir verleihen“, sagt Gerhard Trattler, „wir rechnen mit Umsatzeinbußen von 80 Prozent
– und das in der stärksten Zeit des Jahres.“
Ähnlich ist die Lage direkt jenseits der Grenze im Kaiserwinkl in Tirol. „Uns blutet das Herz. Es ist Hochsaison und alles leer und dunkel“, sagt Tourismus-Chef Gerd Erharter. Hunderte Menschen aus dem Rhein-Kreis Neuss sind dort Stammgäste. „Wir haben vor Weihnachten noch eine Postkarte mit Grüßen aus dem Hotel Alpina bekommen“, sagt Andreas Behr. Der Immobilienmakler aus Meerbusch, der privat in Grevenbroich wohnt, wäre jetzt gerne wieder da. „Es geht halt nicht, in diesem Jahr ist alles anders.“Zum Leidwesen
von Sarah Gruber. Sie ist Juniorchefin im Hotel Alpina und sitzt traurig in der Lobby. „Meine Familie und ich, wir mögen aktuell kaum durchs Haus gehen. Alles ist dunkel und leer. Man hat unserem Hotel das Leben ausgehaucht.“Sie und ihre Kollegen im Kaiserwinkl rätseln, wann es weitergeht. „Wir wollen endlich unserer Arbeit wieder nachgehen können. Inklusive Frühjahr, Herbst und den jetzigen Wintermonaten dauert der Lockdown für uns schon ein halbes Jahr.“Einige Angestellten seien in Kurzarbeit, andere habe man entlassen müssen. „Die Hilfen vom Staat kommen nicht an. Die Politiker versprechen öffentlich ganz viel Unterstützung, aber überall gibt es einen Haken.“
Tourismus-Chef Gerd Erharter fürchtet, dass einige Hotels und Vermieter in finanzielle Schieflagen geraten. „Ich sehe hier schon Turbulenzen aufkommen.“Unklar sei auch, wann die Gäste wieder anreisen dürften. Sie sind für den Kaiserwinkl extrem wichtig: Weit mehr als eine halbe Million Menschen kommen pro Jahr in die Region an der deutsch-österreichischen Grenze, 35 Prozent davon stammen aus NRW, mehrere hundert aus dem Rhein-Kreis.
Schwer getroffen ist auch Martin Wilhelm. Der Profi-Musiker aus Reit im Winkl spielt seit acht Jahren bei den Oktoberfesten in Grevenbroich, Zons und Norf. Seit dem Sommer geht bei ihm nichts mehr. „Ich habe meine Schreinerwerkstatt wiedereingerichtet, arbeite aktuell in meinem erlernten Beruf als Tischler“, berichtet Wilhelm, der regelmäßig Gäste aus Grevenbroich und Rommerskirchen in seiner Pension hat. Wann es weiter geht? Er zuckt mit den Schultern. „Vielleicht kann ich im Herbst wieder bei größeren Veranstaltungen spielen.“Die Skigebiete im Lockdown hoffen auf den Impfstoff – ansonsten könnten dort viele Lichter dauerhaft ausgehen.