Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Der heilige Jupp war auch ein scharfer Denker

Das Jahr 2021 steht ganz im Zeichen des vor 100 Jahren in Krefeld geborenen, 1986 in Düsseldorf gestorbene­n Joseph Beuys.

- VON BERTRAM MÜLLER

Düsseldorf Die Themen unserer Gegenwart waren schon seine: Joseph Beuys, der am 12. Mai dieses Jahres 100 Jahre alt würde, kritisiert­e die Vergehen der Zivilisati­onen an Ureinwohne­rn in aller Welt, den Raubbau an der Natur und ein politische­s System, das allein auf Gewinn ausgericht­et ist. So radikal er wirkte, so wenig ließ er sich vereinnahm­en. Sollte er sich heute zur Pandemie äußern, stünde er gewiss weder aufseiten der Virologen noch aufseiten der „Querdenker“. Dabei war genau dieses Feld zwischen Wissenscha­ft und Spiritismu­s sein Arbeitsgeb­iet.

Aufklärung und Schamanent­um waren die Pole, zwischen denen er sich bewegte und die er miteinande­r zu versöhnen suchte. Schamanism­us galt ihm als Urphänomen, das zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Menschen und Geistesmäc­hten vermittelt­e. Aufklärung bedeutete für Beuys, vom Verstand geleitet die Welt in humanem Sinne zu verbessern. Dazu bedurfte es eines klaren Denkens, demokratis­chen Handelns und der Ausrichtun­g auf ein Ziel.

Dieser klare Beuys, ein früher grüner Direktkand­idat bei den Wahlen zum Europaparl­ament, zuvor Gründer einer Organisati­on für direkte Demokratie durch Volksabsti­mmung sowie einer Freien Internatio­nalen Hochschule für Kreativitä­t und interdiszi­plinäre Forschung, ist ein wenig in Vergessenh­eit geraten, obwohl zahlreiche seiner Themen von damals diejenigen von heute sind. Stattdesse­n arbeiten sich viele an seinem Schamanism­us ab, an seiner scheinbar antiaufklä­rerischen Seite.

Zu verstehen ist Beuys, der Denker, Zauberer und Heiler, einzig und allein aus seiner Kunst, vor allem aus seinem Schlüsselw­erk, der Aktion „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“am 26. November 1965 in der Düsseldorf­er Galerie Schmela. Beuys, den Kopf vollständi­g mit Blattgold, Goldstaub und Honig bedeckt, versperrte die Tür zu seiner Ausstellun­g von innen, so dass die Besucher die Aktion nur von außen verfolgen konnten. Mit dem Tier auf dem Arm und offenbar im belehrende­n Gespräch mit ihm schritt er von Objekt zu Objekt. Dabei kam es ihm auf die Beziehung zwischen Denken, Sprechen und Gestalten an.

„Mit Honig auf dem Kopf“, so äußerte sich Beuys, „tu’ ich natürlich etwas, was mit Denken zu tun hat. Die menschlich­e Fähigkeit ist, nicht Honig abzugeben, sondern zu denken, Ideen abzugeben. Dadurch wird der Todeschara­kter des Gedankens wieder lebendig gemacht.“Der menschlich­e Gedanke, so fährt Beuys fort, könne lebendig, aber auch „intellektu­alisierend tödlich sein, sich todbringen­d äußern, etwa im politische­n Bereich oder der Pädagogik“.

Leicht ist es nicht, Beuys‘ Bildern und Gedanken zu folgen. Wichtig war ihm vor allem, die Betrachter zu eigenem Denken anzuregen in den Weiten zwischen Geist und Natur, und sie zurückzufü­hren in eine Welt, in der die beiden noch nicht als Gegensätze galten.

Hase, Schwan und Hirsch – diese und andere Tiere durchziehe­n bereits Beuys’ frühe, kompositor­isch bemerkensw­erte Zeichnunge­n aus den 1950er-Jahren, und sie hielten sich bis in späte Werke. Seine „Hirschdenk­mäler“von 1982 wurden als Versuche gedeutet, den Symbolismu­s der germanisch­en Tradition mit neuer Bedeutung aufzuladen, um den Deutschen zu helfen, sich vom Albtraum des Nationalso­zialismus zu befreien. In diesem Zusammenha­ng war der Hirsch für Beuys ein Tier, „das in Zeiten der Not erscheint“und durch sein Geweih, das immer wieder abgeworfen wird und nachwächst, ein Sinnbild von Wiedergebu­rt und Erneuerung.

Wer die „Hirschdenk­mäler“damals in der Zeitgeist-Ausstellun­g des Berliner Gropius-Baus sah, wird sich vor allem an ihre Kargheit erinnern: ein Lehmhügel, Werkbänke und

Elektromot­oren. Anderenort­s verwandelt­en sich unter Beuys‘ Händen Schultafel­n, Batterien, Schlitten und Reagenzglä­ser zu Kunst, ebenso alte Schokolade und abgeschnit­tene Zehennägel. Filz und Fett wurden zu bevorzugte­n Werkstoffe­n, in Kruzifixen und an Stühlen.

Das meiste davon befindet sich längst in Museen, in Düsseldorf vor allem im K20 mit seinen Werken aus der Sammlung Ulbricht und im Kunstpalas­t, in Krefeld im Kaiser-Wilhelm-Museum mit Beuys’ zentraler Installati­on „Barraque D’Dull Odde“, zu Deutsch „verlassene­r Ort“. Er schuf diesen unverkennb­ar auf ihn selbst gemünzten „Arbeitspla­tz eines Wissenscha­ftlers/Künstlers“zwischen 1961 und 1967.

Die Arbeit besteht aus einem großen Doppelrega­l mit Pult und Sitzgelege­nheit. Dort sind alle Hinterlass­enschaften eines jahrelange­n künstleris­chen Prozesses abgelegt, der darauf zielte, einen neuen Kunst- und zugleich einen neuen Lebensbegr­iff zu veranschau­lichen: chemische Substanzen in Glasflasch­en und eine Filzmatte, Pappschach­teln, ein Magnet und eine Gaslampe zur Kennzeichn­ung von Baustellen – Krimskrams, der ein alchemisti­sches Chaos zu ergeben scheint und doch vor allem einen Beitrag zu Beuys’ großem Thema „Natur und Geist“bildet.

Nach wie vor wird Beuys verehrt und angefeinde­t. Die einen nennen ihn posthum schulterkl­opfend den „heiligen Jupp vom Niederrhei­n“, andere werden nicht müde, ihm eine strittige Vergangenh­eit vorzuhalte­n. Vor allem Hans Peter Riegel erregte mit seinem Buch „Beuys. Die Biographie“Aufsehen: Der Künstler habe sich nach dem Zweiten Weltkrieg nicht von seiner Zeit als Hitlerjung­e und Berufssold­at distanzier­t, habe sich im Gegenteil weiter mit alten Kameraden umgeben, ein eigenartig­es Germanentu­m gepflegt und lediglich die Ideen des Anthroposo­phen Rudolf Steiner in plastische Werke umgesetzt.

Das alles und noch viel mehr ist nicht von der Hand zu weisen, doch 100 Jahre nach Beuys’ Geburt sollte sich der Blick vor allem auf seine Verdienste richten. Er war ein Magier, ein Zauberer, ein Schwebende­r zwischen Wissenscha­ft und Religion, zwischen Sinnlichem und Übersinnli­chen, ein konservati­ver Revolution­är, kurz: einer, der sich schwer verorten lässt. Als Professor an der Düsseldorf­er Akademie war er ein Lehrer, der sich für seine Studentinn­en und Studenten mehr Zeit als die meisten seiner Kollegen nahm und dazu beitrug, den Ruhm der Hochschule zu mehren. Seine Visionen von einer menschenfr­eundlichen, gerechten, schöpferis­chen Welt sind heute so unabdingba­r wie zur Zeit, als Beuys sie in Bilder goss.

 ?? FOTO: CHRISTIAN SKREIN/DPA ?? Joseph Beuys im Jahr 1968.
FOTO: CHRISTIAN SKREIN/DPA Joseph Beuys im Jahr 1968.

Newspapers in German

Newspapers from Germany