Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Neues Bewusstsein für die Stadt der Zukunft
Die Pandemie hat gezeigt, dass das klassische Modell der urbanen Stadt, das vor allem auf Konsum setzt, ausgedient hat. Die NachhaltigkeitsExpertin Catharina Enderlein erklärt, wie sich die Städte künftig ausrichten müssen und was das für die Gesellschaft
Leere Geschäfte, geschlossene Restaurants, verwaiste Marktplätze: Deutsche Großstädte leiden unter der Pandemie. Doch schon vorher machte ihnen vor allem der Online-Handel zu schaffen. Genau jetzt besteht die Chance, Städte neu zu denken und wieder den Mensch in den Mittelpunkt zu rücken, sagt Catharina Enderlein im RP-Gespräch. Sie ist Gesellschafterin der Strategieund Nachhaltigkeits-Agentur meet MOMENTUM GmbH & Co. KG in Düsseldorf und analysiert im Auftrag von Firmen und Institutionen aus der Immobilienbranche, wie sich Nachhaltigkeits-Themen umsetzen lassen. Zudem ist sie Gründerin der 2020 gestarteten Initiative „Sinnflut“, die sich in Podiumsdiskussionen und online mit Zukunftsfragen beschäftigt.
Frau Enderlein, das vergangene Jahr war eine Herausforderung für die gesamte Gesellschaft. Was wird das kommende Jahr Ihrer Meinung nach bestimmen?
CATHARINA ENDERLEIN 2020 war das Jahr der Veränderungen. 2021 wird das Jahr der Entscheidungen. Entscheidungen, die davon geprägt sind, wie wir uns als Einzelner und als Gemeinschaft im urbanen Stadtraum verhalten. Selbstbestimmt und frei trotz Einschränkungen
und Herausforderungen. Geht das? Ganz klar: Ja. Bei all der Distanz, die das Jahr der Covid-19-Pandemie ausgelöst hat, bei all der unweigerlichen Selbstbesinnung und Entschleunigung, schwingt genau jetzt eine außergewöhnliche Form der Nähe mit.
Was meinen Sie mit Nähe?
ENDERLEIN Ich bin überzeugt, dass dieses tragende Gemeinschaftsgefühl Brücken baut. Starke Fundamente, die wir für kraftvolle, widerstandsfähige Orte innerhalb der gesunden Zukunftsstadt brauchen. Sie sind gefragt: Ob als Bürger, als Architekt und Gestalter, als Unternehmer, Wissenschaftler, starke Netzwerker, oder als junger, engagierter Mensch. Die Leidenschaft und der Wunsch, gemeinsam eine starke Gesellschaft und Wirtschaft zu formen und der Natur mehr Freiraum im Herzen der Stadt zu geben, werden uns weit bringen.
Was genau brauchen wir denn dafür?
ENDERLEIN Eine einfache Verbindung von Immobilien-Akteuren, Unternehmern und letztlich jedem Einzelnen. Und es braucht Räume, die situativ nach Bedarf genutzt werden, ausreichend Platz für verschiedenen Lebensstile und -phasen bieten und soziale Interaktion
ermöglichen. Nutzen wir intelligente Produkte, Services und visionäre Technologien als Innovationen, um mit Bedacht eine gesunde Kreislaufwirtschaft zu formen, in der Langlebigkeit, Qualität und Wiederverwertung im Zentrum des Handelns stehen.
Wie sieht die Stadt der Zukunft konkret für Sie aus?
ENDERLEIN Das 21. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Stadt. Das Wesen eines resilienten Stadt-Netzwerkes lebt von geteiltem Wissen und kreativen Wegen. Architektur. Mobilität. Diversität. Digitalisierung. Infrastrukturen. Klima. Soziales. Covid-19. Der Wandel macht deutlich, dass wir in einem komplexen Ökosystem leben, in dem alles mit allem verbunden ist. Es gibt unendliche Möglichkeiten, viele Herausforderungen und es gibt Chancen, wenn wir sie jetzt als solche erkennen. Im Mittelpunkt steht der Mensch selbst inmitten seines Lebensraumes.
Wo liegen die Herausforderungen für die Städte der Zukunft?
ENDERLEIN Zunächst einmal werden die Städte wachsen. Schon heute leben weltweit 55 Prozent aller Menschen in der Stadt. Tendenz steigend. Bis zum Jahr 2050 wird diese Zahl laut Prognosen bei 68 Prozent liegen. Natürlich erzeugen mehr Menschen auf kleiner Fläche mehr Emissionen, mehr Verkehr, mehr Müll. Wir treffen auf endliche Ressourcen, die einen hohen Stellenwert haben. Lernen wir voneinander: Städte wie Kopenhagen oder Amsterdam machen vor, wie schön und entspannt das Radfahren ist. Modulare, flexible Gebäude wie die Container City in London setzen auf multifunktionale Raumlösungen, um erschwingliche Sozialwohnungen schnell und unkompliziert umzusetzen. Erste Holz-Hybrid-Hochhäuser wie das „Hoho“in der Wiener Seestadt Aspern zeigen, dass es mit natürlichen Materialien wie Holz hoch hinaus geht – architektonisch wertvoll und umweltschonend. Am ehemaligen Flughafen Berlin-Tegel entsteht das größte Holzbau-Quartier der Welt mit rund 5000 Wohneinheiten und hier in Düsseldorf wächst „The Cradle“als erstes Holz-Hybrid-Office.
Braucht es für diesen Wandel nicht auch grundsätzlich ein neues Bewusstsein?
ENDERLEIN Nicht nur global, sondern auch hierzulande entsteht bereits ein neues Bewusstsein: Immer mehr Bürger setzen vermehrt auf Sharing von Produkten und Dienstleistungen, E-Autos oder Urban Farming (also etwa dem Obst- und Gemüseanbau auf Gebäudedächern, Anm. d. Red.). Unternehmen richten ihre Werte auf Aspekte der Nachhaltigkeit aus und ermöglichen ihren Mitarbeitern einen gelebten, ressourcenschonenden Alltag. Es liegt an jedem Einzelnen von uns, gemeinsam visionäre Städte von hoher Lebensqualität zu entwickeln, die den Rahmen für eine gesunde Gesellschaft und Wirtschaft bilden. Nutzen Sie diesen außergewöhnlichen Jahresanfang zur Neusortierung und gestalten den Wandel aktiv mit. Wir alle haben die gesunde Stadt der Zukunft gemeinsam in der Hand.
CHRISTIAN HENSEN FÜHRTE DAS INTERVIEW.
Immobilien & Geld
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