Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Grüne Revolution in Paris
Bürgermeisterin Anne Hidalgo sucht nach Wegen, um die Metropole zu entschleunigen und zu begrünen – mithilfe von Corona.
PARIS Über den Dächern von Paris ist die Luft frisch. Julie Miozette geleitet Besucher über Eisentreppen, vorbei an den futuristischen Abluftkaminen des Expo-Geländes Porte de Versailles. Oben abgekommen, hat man den Eindruck, sich im Grünen zu befinden – überall Stauden, Blumen und Gemüse. „Willkommen im Pariser Schrebergarten“, sagt die junge Frau.
Miozette ist Projektleiterin von „Nature Urbaine“, einem Start-up-Unternehmen, das über dem Pariser Ausstellungsgelände wirkt. Es vermietet unter anderem erdgefüllte Holzkisten zum Jahrestarif von 320 Euro. „Und nur an die Anwohner des 15. Bezirks“, präzisiert Miozette mit einer Armbewegung über die Brüstung. „Die Leute sollen zu Fuß oder mit dem Fahrrad hierher kommen können.“Im Sommer sei viel los gewesen, sagt Miozette. „Vor und nach der ersten Corona-Welle haben viele Familien Paris verlassen, und den Verbliebenen boten wir die Gelegenheit, zumindest einen Quadratmeter Erdreich zu bewirtschaften.
Wohlgemerkt mitten in Paris, einer Stadt, die weniger Grünflächen zählt als London oder Madrid – nicht einmal sechs Quadratmeter pro Einwohner. In Paris wohnt man auch dichter als in New York oder Dehli – 21.000 Bewohner pro Quadratkilometer. „In Paris hat man zunehmend das Gefühl zu ersticken“, sagt die 31-Jährige unter ihrer Maske. Im Juli habe die Innenstadt einen neuen Hitzerekord von 42,6 Grad erlebt. „Unsere Dachbegrünung ist ein Beitrag gegen die Hitze-Insel Paris“, resümiert die Projektleiterin.
Das Vier-Frauen-Unternehmen Nature Urbaine steht damit nicht allein da. Im Rathaus auf der anderen Seite der Seine legt Vize-Bürgermeister Emmanuel Grégoire der Presse per Videokonferenz dar, wie die rot-grüne Stadtregierung den urbanen Raum klimafreundlich vegetalisieren will. Seine Zahlen sind imposant: 30 Hektar Straßen, Dächer, Terrassen und sogar Fassaden sollen grün, nochmals 30 Hektar verbaute Fläche zu Gärten und Parks werden. Im 18. Bezirk will Grégoire über einem alten Eisenbahndepot sogar einen „kleinen Central Park“schaffen, wie er sagt. Insgesamt sollen bis zum Mandatsende der Bürgermeisterin Anne Hidalgo im Jahr 2025 insgesamt 170.000 Bäume auf dem Stadtgebiet gepflanzt werden.
Und das ist nur der Anfang der grünen Revolution. Paris werde den weltweit ersten „bioklimatischen“Urbanismusplan erhalten, führt der Stadtvize aus. Ziel sei es, Gebäude nicht mehr abzubrechen, sondern mit Baumaterialien wie Holz, Hanf oder Stroh zu „rehabilitieren“. Fassaden sollen nicht mehr verputzt, sondern eben begrünt werden, sofern das möglich ist. Ein Beispiel ist die ehemalige Polizeipräfektur am Boulevard Morland: Aus dem hässlichen Verwaltungsbauklotz schafft Stararchitekt David Chipperfield ein transparentes Ensemble mit Arbeitsplätzen, Wohnungen, Jugendherberge, Krippe, Spielplatz und Läden. „Morland“folgt dem von Stadtarchitekten weltweit diskutierten Viertelstunden-Konzept: Einwohner, Familien und Arbeitende sollen ihre täglichen Ziele zu Fuß oder per Fahrrad binnen 15 Minuten
erreichen, das heißt, auch in der City menschen- und klimafreundlich leben können.
Touristen merkten bisher nicht viel von den Veränderungen, doch langsam ändert sich das. Vor dem Louvre ertappt man zwei Auswärtige, wie sie am Fußgängerstreifen vorsichtig nach links und nach rechts schauen, um vorbeirasenden Autos zu entgehen. Bloß: Die
Rue de Rivoli ist leer. Die schnurgerade Straße ist für den Autoverkehr gesperrt. Die wichtigste Pariser Durchgangsstraße, Kern der historischen Achse von der Bastille bis zum Triumphbogen, jahrzehntelang als verstopfte Verkehrsachse berüchtigt, ist heute so verkehrsberuhigt, dass man im nahen Tuilerienpark die Vögel zwitschern hört. Man hätte erwarten können, dass die Schließung eine riesige Debatte im Stadtrat auslösen würde. Dass der französische Verband „40 Millionen Autofahrer“eine aggressive Gegenkampagne lancieren würde. Doch nichts geschah. Hidalgo, 2001 erstmals zur stellvertretenden Bürgermeisterin gewählt, weiß, wie man Dinge in Paris anpacken muss.
Zu Beginn der Corona-Krise ließ sie auf zahllosen Straßenachsen provisorisch fahrspurbreite Radwege in Gelb pinseln. Dagegen war nicht viel einzuwenden, da viele Einwohner aufs Rad umsteigen wollten, um sich nicht mehr in überfüllte U-Bahnen oder Busse quetschen zu müssen. Die wichtigsten Avenuen verloren eine ganze Fahrspur, doch selbst die politische Opposition hielt still. Nun soll aus der provisorischen eine definitive Anordnung werden.
1959 in Spanien geboren, wird Hidalgo von ihren konservativen Gegnern wenig elegant als „andalusischer Stier“bezeichnet. Will sagen, Madame la Maire sei etwas starrsinnig. Die Sozialistin verfolgt seit 20 Jahren das gleiche Ziel: das Bonmot des ehemaligen Staatspräsidenten Georges Pompidou in den 60er-Jahren, man müsse „die Stadt am Auto anpassen“, in sein Gegenteil zu verkehren. Hidalgo setzte schon in den Nullerjahren den Plan ihres Vorgängers um, die an der Seine entlangführende Schnellstraße in eine Flaniermeile zu verwandeln. Als Hidalgo 2014 zur Bürgermeisterin gekürt wurde, folgt der zweite Streich: Bis 2024 werden Dieselund ältere Benzinmotoren aus Paris verbannt. Mitte 2020 wiedergewählt und in einer Koalition mit den Grünen, kündigte sie an, Paris werde von wenigen Ausnahmen abgesehen Tempo 30 einführen. Auf der Ringautobahn will sie eine von drei Spuren für Busse und Fahrgemeinschaften reservieren.
So drängt Hidalgo den Autoverkehr schrittweise, aber systematisch aus der Stadt. Im Wahlkampf machte sie im Sommer eine weitere Ankündigung: Bis zum Ende ihrer Amtszeit will sie 70.000 Parkplätze in den Pariser Straßen aufheben. Damit entfiele die Hälfte der oberirdischen Stellflächen. An ihre Stelle werden viele jener Pflanzen treten, mit denen Hidalgos Vize Grégoire die Stadt begrünen will.