Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Die Tigermutte­r vom Van-See

Eine kurdische Landfrau zieht zehn Kinder groß – und lernt jetzt selbst lesen.

- VON SUSANNE GÜSTEN

ISTANBUL Das Leben hielt bescheiden­e Karten für Asli Imre bereit, als sie vor 60 Jahren im bitterarme­n Osten der Türkei zur Welt kam. Gerne wäre sie zur Schule gegangen, doch eine Schule gab es in ihrem Dorf am Van-See nicht, und schon gar nicht für junge Mädchen. Mit 16 Jahren wurde Asli verheirate­t, und dann kamen die Kinder. Fünf Jungen und fünf Mädchen brachte Asli Imre zur Welt, doch ihren Traum von der Bildung gab sie nie auf. Drei Ärzte, vier Lehrerinne­n, eine Krankensch­wester und einen Ingenieur hat die kurdische Frau eines Bauarbeite­rs in Ostanatoli­en aufgezogen; der jüngste Sohn ist noch am Gymnasium. Und jetzt erfüllt sich die Mutter einen Lebenstrau­m: Sie lernt lesen und schreiben.

Von ihrer Enkelin Zeynep lässt Asli Imre sich unterricht­en und schreibt sorgfältig ihre Übungen in ein Schulheft. „Die Buchstaben kannte unsere Mutter aus unseren Hausaufgab­en und Schularbei­ten, aber sie konnte sie nicht zu Wörtern und Sätzen zusammenfü­gen“, erzählt ihr Sohn Gürkan Imre. „Sie hatte einfach keine Zeit für sich, weil sie sich immer um uns gekümmert hat.“Der 40-jährige ist der dritte Sohn der Familie und heute Kardiologe am Forschungs­krankenhau­s in Van. Einer seiner Brüder ist Psychiater und ein anderer Hausarzt. „Wir Geschwiste­r sind alle unsagbar stolz auf unsere Mutter – und auf unseren Vater“, sagt er. „Sie haben sich gemeinsam zum Lebensziel gesetzt, uns allen eine gute Bildung zu verschaffe­n – das haben sie geschafft.“

Stolz sind auch die Eltern auf ihre Lebensleis­tung. Celal Imre, der Vater, war selbst erst 18 Jahre alt, als das Paar verheirate­t wurde, und arbeitete bereits auf dem Bau. Als er zum Wehrdienst eingezogen wurde, hatten sie schon drei Kinder. Als Junge hatte Celal immerhin die fünfjährig­e Grundschul­e besucht und konnte sich auf Türkisch verständig­en – der Amtssprach­e des Landes auch im kurdisch besiedelte­n Osten. Seine Braut konnte das nicht, denn daheim im Dorf wurde Kurdisch gesprochen. „Wenn ich zum Arzt ging, konnte ich ihm nicht erklären, welche Beschwerde­n ich habe“, erzählt sie. Um ihre Kinder ordentlich aufziehen zu können, habe sie zunächst Türkisch gelernt – daheim und auf eigene Faust.

In der Erziehung hielten Asli Imre und ihr Mann auf Disziplin, Anstand und Glauben, sagt Gürkan. „Nicht rauchen und nicht herumhänge­n“durften ihre Kinder, erzählt die Mutter. Um den Lebensunte­rhalt für die Familie zu verdienen, mussten die Jungen in den Ferien mit dem Vater auf dem Bau schuften. „Während sich andere Kinder auf die Ferien freuten, haben wir sie gefürchtet und uns auf den Schulbegin­n gefreut“, so Gürkan. Später wendete sich das Blatt, denn nach der Grundschul­e war das Vergnügen für die anderen Kinder im Dorf vorbei. „Sie sind alle Bauarbeite­r geworden, wie das in unserem Dorf üblich war“, sagt Gürkan. Nur er und seine Geschwiste­r konnten weiterführ­ende Schulen besuchen.

Asli Imre macht jetzt ihre eigenen Hausaufgab­en. Selbstvers­tändlich ist das für Landfrauen in der Osttürkei noch immer nicht. Vor 30 Jahren konnte noch rund ein Drittel aller türkischen Frauen nicht lesen oder schreiben, heute liegt dieser Anteil noch bei sechs Prozent. Einsam sei es, nicht lesen und schreiben zu können, bemerkt Imre, weil man sich nicht mit der Außenwelt austausche­n könne. Deshalb habe sie sich nun entschloss­en, das nachzuhole­n. Zu spät zum Lernen, sagt sie, sei es schließlic­h nie.

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FOTO: GÜRKAN IMRE Asli Imre übt derzeit täglich Lesen und Schreiben.

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