Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Schläft ein Lied in allen Dingen
Jeder Mensch hat eine Art Notlicht im Kopf. Nachts kann er auf die Toilette oder zum Kühlschrank in der Küche spazieren, ohne einen Lichtschalter zu betätigen – sein Gehirn kennt sich blind aus im Raum, den es schon zahllose Male kartiert und vermessen hat; gleichsam von innen steuert es unsere Schritte. Hirnforscher könnten uns Romane davon erzählen.
Viele Düsseldorfer Musikfreunde dürften sich auch in der Tonhalle zurechtfinden, wenn dort das Licht ausfiele, so oft sind sie ihren Weg zum Platz schon gegangen. Hier, der Eingang am Rondell, dann links zu Frau Hanauer, den Mantel abgeben und ein Schwätzchen halten, zur Sicherheit ein paar Ricola-Bonbons einsacken, acht Meter weiter noch mal zu den „Herren“, bald zurück zu einer der wuchtigen Stützstreben des Kuppelbaus, um an einem Stand das Programmheft zu kaufen. Weiter in den Kreisverkehr um die Rotunde, um ein paar entspannende Schritte zu tun, bevor es zum Aufgang E geht, den wir bei Plätzen im Rang serpentinengleich und erschöpfend erkraxeln, um dann, gottlob ohne Karabinerhaken, in der alpinen Region des Hauses anzukommen und – wie von
Wunderhand gelenkt – direkt Reihe drei, Platz fünf zu finden.
Auf diese vertrauten Wege zum klingenden Glück freuen sich viele Musikfreunde derzeit umso mehr, weil die Tonhalle wegen der Pandemie geschlossen ist. Ist dort innen alles beim Alten geblieben? Gibt es Neuerungen? Streaming-Konzerte gut und schön, aber was ist mit der Uecker-Installation in der Rotunde? Was mit den rustikalen, fast vintage-mäßigen Lederkissen, auf denen man sitzt? Was ist mit der oberen Cafeteria? Gibt es noch die Vitrine für Frikadellen und Geflügelsalat?
Ich war jetzt drin, um das Haus zu inspizieren. Dienstlicher Auftrag. Aber auch, um mein Herz zu beruhigen, ob noch alles steht und nichts verloren gegangen ist. Musste Witterung aufnehmen und horchen, wie viel Musik noch in den Wänden und Säulen steckt, wollte auch banale Tests durchführen und hören, wie der Boden unter den Füßen knirscht und klackert, wie der Saal atmet und schweigt. Musste prüfen, ob man bei Totenstille ein sehr fernes Beben der U75 hört, von dem manche gelegentlich reden.
Unten ist überall mattes Licht, doch kenne ich das Haus. Die Strebesäulen sind alle noch da, ein Glück, dicke alte Freunde, die man anpacken und hinter denen man sich verstecken kann, sie machen das Haus zur Trutzburg, gesichert gegen Einsturz. Ich erkenne aber auch – die Augen haben sich mittlerweile ans Licht gewöhnt – neue Büfetts für den Pausenausschank, sie sind farblich in Rot, Grün und Grau gehalten, sehr elegant.
Sodann gibt es neue Bildschirme an den Treppenaufgängen, große LED-Teile, die eine Dia-Show für die kommenden Veranstaltungen aufscheinen lassen. Schließlich der Boden im Foyer: Er ist porentief gereinigt, wirkt wie neu und wie Musik von Anton Bruckner: breit und dunkel glänzend, wie ein erhabenes Fundament, von dem aus alles in die Höhe drängt.
Und erst der Uecker! Ich habe ihn immer schon geliebt, dieses von innen beglänzte und auf den Kopf gestellte Fakirbett, doch nun, wenn niemand in meiner Nähe unterhalten werden will und überhaupt kein heiliges Geplauder den Raum erfüllt, wirkt er fast scheu, wie das Licht einer Sakristei, die in der Tiefe des Raumes liegt. Dabei war dieses Hauses mal ein Planetarium.
Doch die Sternwarte kommt noch, denn ich darf sogar in den großen Saal. Und tatsächlich hat ein freundlicher Techniker, bevor er sich wieder verzogen hat, das Sterngeblinke angestellt, das hinter der aus Metall geflochtenen Deckenverkleidung versteckt ist und uns in Konzerten an Leier, Kassiopeia, Bär, Orion oder Schwan denken lässt. Diese Sterne haben schon sehr viel Musik erlebt, so viel mehr als die „Planeten“von Gustav Holst, quasi die ganze Galaxie von Claudio Monteverdi bis György Ligeti. Richtig angefüttert sind sie mit Klängen und doch klein und zart geblieben.
Und während man sie bestaunt und während meine Hände das Sitzpolster und meine Schuhe das Parkett befühlen, fällt einem dieses grandiose Gedicht von Eichendorff ein, das in die Tonhalle und ihre zahllosen Details wie angegossen passt: „Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort, /
Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort.“
Es ist ein Glück, hier unbespaßt sitzen zu dürfen, ganz allein im hohen Dom der Musik, der einem schon so viele Momente der Erbauung und Begeisterung gespendet hat. Auf dem Podium steht zwar sehr einladend ein Flügel, aber es wäre übergriffig, ihn jetzt zu öffnen und ihm Töne zu entlocken. Das darf nicht. Eher für mich summe ich Debussys „Clair de lune“, das den Sternen vertrauter vorkommen dürfte. Und wie schön: Der Raum antwortet. Würgt das Summen nicht ab, sondern fängt sein Echo auf, birgt es – und lässt es wieder frei. Eine luxuriöse Situation, für die ich mich fast schäme. Andererseits soll hier für alle zur Beruhigung gedruckt stehen: Ja, es ist noch alles beim Alten, und irgendwie, so scheint es, freut sich der Saal auf uns.
Nach meiner kleinen Andacht gehe ich wieder. Etwas Wehmut beschwert mich, als ich die Ausgangstür erreiche, draußen ist ja wieder das tageshelle Düsseldorf unter einem gesichtslosen Himmel; nun singt auch kein Lied mehr. Hingegen höre ich nun das Rumpeln der U 75.
Bald kommen wir alle wieder, denn wir sind mächtig auf Entzug. Bis dahin: Mach’s gut, altes Haus!