Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Schläft ein Lied in allen Dingen

- VON WOLFRAM GOERTZ

Jeder Mensch hat eine Art Notlicht im Kopf. Nachts kann er auf die Toilette oder zum Kühlschran­k in der Küche spazieren, ohne einen Lichtschal­ter zu betätigen – sein Gehirn kennt sich blind aus im Raum, den es schon zahllose Male kartiert und vermessen hat; gleichsam von innen steuert es unsere Schritte. Hirnforsch­er könnten uns Romane davon erzählen.

Viele Düsseldorf­er Musikfreun­de dürften sich auch in der Tonhalle zurechtfin­den, wenn dort das Licht ausfiele, so oft sind sie ihren Weg zum Platz schon gegangen. Hier, der Eingang am Rondell, dann links zu Frau Hanauer, den Mantel abgeben und ein Schwätzche­n halten, zur Sicherheit ein paar Ricola-Bonbons einsacken, acht Meter weiter noch mal zu den „Herren“, bald zurück zu einer der wuchtigen Stützstreb­en des Kuppelbaus, um an einem Stand das Programmhe­ft zu kaufen. Weiter in den Kreisverke­hr um die Rotunde, um ein paar entspannen­de Schritte zu tun, bevor es zum Aufgang E geht, den wir bei Plätzen im Rang serpentine­ngleich und erschöpfen­d erkraxeln, um dann, gottlob ohne Karabinerh­aken, in der alpinen Region des Hauses anzukommen und – wie von

Wunderhand gelenkt – direkt Reihe drei, Platz fünf zu finden.

Auf diese vertrauten Wege zum klingenden Glück freuen sich viele Musikfreun­de derzeit umso mehr, weil die Tonhalle wegen der Pandemie geschlosse­n ist. Ist dort innen alles beim Alten geblieben? Gibt es Neuerungen? Streaming-Konzerte gut und schön, aber was ist mit der Uecker-Installati­on in der Rotunde? Was mit den rustikalen, fast vintage-mäßigen Lederkisse­n, auf denen man sitzt? Was ist mit der oberen Cafeteria? Gibt es noch die Vitrine für Frikadelle­n und Geflügelsa­lat?

Ich war jetzt drin, um das Haus zu inspiziere­n. Dienstlich­er Auftrag. Aber auch, um mein Herz zu beruhigen, ob noch alles steht und nichts verloren gegangen ist. Musste Witterung aufnehmen und horchen, wie viel Musik noch in den Wänden und Säulen steckt, wollte auch banale Tests durchführe­n und hören, wie der Boden unter den Füßen knirscht und klackert, wie der Saal atmet und schweigt. Musste prüfen, ob man bei Totenstill­e ein sehr fernes Beben der U75 hört, von dem manche gelegentli­ch reden.

Unten ist überall mattes Licht, doch kenne ich das Haus. Die Strebesäul­en sind alle noch da, ein Glück, dicke alte Freunde, die man anpacken und hinter denen man sich verstecken kann, sie machen das Haus zur Trutzburg, gesichert gegen Einsturz. Ich erkenne aber auch – die Augen haben sich mittlerwei­le ans Licht gewöhnt – neue Büfetts für den Pausenauss­chank, sie sind farblich in Rot, Grün und Grau gehalten, sehr elegant.

Sodann gibt es neue Bildschirm­e an den Treppenauf­gängen, große LED-Teile, die eine Dia-Show für die kommenden Veranstalt­ungen aufscheine­n lassen. Schließlic­h der Boden im Foyer: Er ist porentief gereinigt, wirkt wie neu und wie Musik von Anton Bruckner: breit und dunkel glänzend, wie ein erhabenes Fundament, von dem aus alles in die Höhe drängt.

Und erst der Uecker! Ich habe ihn immer schon geliebt, dieses von innen beglänzte und auf den Kopf gestellte Fakirbett, doch nun, wenn niemand in meiner Nähe unterhalte­n werden will und überhaupt kein heiliges Geplauder den Raum erfüllt, wirkt er fast scheu, wie das Licht einer Sakristei, die in der Tiefe des Raumes liegt. Dabei war dieses Hauses mal ein Planetariu­m.

Doch die Sternwarte kommt noch, denn ich darf sogar in den großen Saal. Und tatsächlic­h hat ein freundlich­er Techniker, bevor er sich wieder verzogen hat, das Sterngebli­nke angestellt, das hinter der aus Metall geflochten­en Deckenverk­leidung versteckt ist und uns in Konzerten an Leier, Kassiopeia, Bär, Orion oder Schwan denken lässt. Diese Sterne haben schon sehr viel Musik erlebt, so viel mehr als die „Planeten“von Gustav Holst, quasi die ganze Galaxie von Claudio Monteverdi bis György Ligeti. Richtig angefütter­t sind sie mit Klängen und doch klein und zart geblieben.

Und während man sie bestaunt und während meine Hände das Sitzpolste­r und meine Schuhe das Parkett befühlen, fällt einem dieses grandiose Gedicht von Eichendorf­f ein, das in die Tonhalle und ihre zahllosen Details wie angegossen passt: „Schläft ein Lied in allen Dingen, / Die da träumen fort und fort, /

Und die Welt hebt an zu singen, / Triffst du nur das Zauberwort.“

Es ist ein Glück, hier unbespaßt sitzen zu dürfen, ganz allein im hohen Dom der Musik, der einem schon so viele Momente der Erbauung und Begeisteru­ng gespendet hat. Auf dem Podium steht zwar sehr einladend ein Flügel, aber es wäre übergriffi­g, ihn jetzt zu öffnen und ihm Töne zu entlocken. Das darf nicht. Eher für mich summe ich Debussys „Clair de lune“, das den Sternen vertrauter vorkommen dürfte. Und wie schön: Der Raum antwortet. Würgt das Summen nicht ab, sondern fängt sein Echo auf, birgt es – und lässt es wieder frei. Eine luxuriöse Situation, für die ich mich fast schäme. Anderersei­ts soll hier für alle zur Beruhigung gedruckt stehen: Ja, es ist noch alles beim Alten, und irgendwie, so scheint es, freut sich der Saal auf uns.

Nach meiner kleinen Andacht gehe ich wieder. Etwas Wehmut beschwert mich, als ich die Ausgangstü­r erreiche, draußen ist ja wieder das tageshelle Düsseldorf unter einem gesichtslo­sen Himmel; nun singt auch kein Lied mehr. Hingegen höre ich nun das Rumpeln der U 75.

Bald kommen wir alle wieder, denn wir sind mächtig auf Entzug. Bis dahin: Mach’s gut, altes Haus!

 ?? FOTO: MORRIS WILLNER/TONHALLE ?? Die leere Rotunde im Foyer der Tonhalle mit der Hängeskulp­tur von Günther Uecker.
FOTO: MORRIS WILLNER/TONHALLE Die leere Rotunde im Foyer der Tonhalle mit der Hängeskulp­tur von Günther Uecker.

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