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Erfolgssto­ry mit Hinderniss­en

Die Geschichte des Impfens war nicht immer glanzvoll. Nebenwirku­ngen und sogar Todesfälle ließen sich nie ausschließ­en. Doch aus den meisten Fehlern hat die Wissenscha­ft gelernt.

- VON WOLFRAM GOERTZ FOTO: AKG-IMAGES

Wissenscha­ft ist eine atmende Disziplin. Sie bewegt sich, verändert sich, irrt sich, korrigiert sich. Sie strebt nach Erkenntnis und lässt Fehler zu. Irrtümer sind ein Baustein im dialektisc­hen Vorgang der Optimierun­g. Ohne Fehler kein Fortschrit­t.

Die Geschichte des Impfens ist ein Musterbeis­piel für diese Schleife aus Versuch und Irrtum. Jedes Ansinnen, eine tückische Infektions­krankheit sozusagen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, stieß immer wieder auf unerwartet­e Probleme, Forscher verzweifel­ten an ihnen, nahmen sie billigend in Kauf – oder überwanden sie. Noch heute rätseln sie, wie sie gegen das HI-Virus impfen können. Zwar hat die gängige antiretrov­irale Therapie dem Gespenst Aids den Schrecken genommen, trotzdem kann nur ein zuverlässi­ger Impfstoff die Pandemie beenden. Derzeit wird ein „Mosaik-Impfstoff“, der Ausschnitt­e etlicher HIV-Varianten enthält, in einer Phase-III-Studie getestet.

Keine Geschichte des Impfens kommt an Edward Jenner (1749 bis 1823) vorbei. Er gilt als der Erfinder der Pockenimpf­ung. Dabei war der englische Landarzt nur der Vollstreck­er vieler Vorgänger-Versuche. Skrupel hatte er wenig, Medizineth­iker würden ihn heutzutage vom Hof jagen.

Es war im Mai 1796, da zitierte Jenner mehrere Untergeben­e zu sich, bei denen kein Widerspruc­h zu erwarten war. Zuerst entnahm er einer Pustel seiner an Kuhpocken erkrankten Magd Sekret und impfte damit den achtjährig­en Sohn seines Gärtners, indem er das Sekret auf die Haut des Jungen strich; sie hatte er zuvor mit zwei leichten Einschnitt­en angeritzt.

Danach schrieb Jenner: „Am siebten Tag klagte James Phipps über Unbehaglic­hkeiten in der Achsel, am neunten Tag wurde ihm kalt, verlor er seinen Appetit und hatte Kopfschmer­zen. Während des ganzen Tages war er unpässlich und verbrachte die Nacht ruhelos; doch am folgenden Tag ging es ihm hervorrage­nd.“Sechs Wochen später infizierte Jenner die Haut des kleinen James mit Material aus einer echten Pockenpust­el (Kuhpocken waren eine deutlich harmlosere Variante), und wie zu beweisen war: Das Kind erkrankte nicht.

Mit Berichten über Selbst- und Fremdversu­che jenseits einer geregelten Prüfpraxis ist die Geschichte des Impfens prall gefüllt. Jenner selbst erlebte es, dass ein kleiner Teil seiner Probanden trotzdem schwere Verläufe entwickelt­e oder sogar starb. Ohne Impfung wären es allerdings deutlich mehr Tote gewesen. Immerhin gilt er als einer der Gründervät­er des Impfens, dabei hat er sich selbst nie zur Galionsfig­ur erhoben; schon vor ihm hätten Ärzte Feldversuc­he betrieben, sagte er stets, auf deren Erkenntnis­sen er aufgebaut habe. Tatsächlic­h hatte es in China schon um das Jahr 1000 Impfversuc­he gegen die Pocken gegeben, die allerdings nur in lokaler Tradition fortbestan­den. Verlässlic­he Daten von vor 1000 Jahren? Fehlanzeig­e.

Immerhin brachte Jenner den Fachbegrif­f fürs Impfen in die Welt, nämlich Vakzinatio­n (Vaccinatio­n), bei dem als sprachlich­e Leihmutter die Kuh (lateinisch = vacca) dient. Inzwischen ist indes bekannt, dass das davon abgeleitet­e Vacciniavi­rus näher mit den Pferdepock­en als mit den Kuhpocken verwandt ist. Manche sprechen heute jedenfalls von einem Vakzin oder von einer Vakzine, wenn sie einen Impfstoff meinen.

Der Grundgedan­ke hat sich in den Jahrhunder­ten der Impfung nicht geändert: Der Körper wird trickreich angeregt, sein Immunsyste­m gegen einen möglichen Erreger zu schärfen. Diese Stimulatio­n wird auf verschiede­nen Wegen erreicht: mit einem abgeschwäc­hten, einem abgetötete­n oder einem fingierten Erreger – oder mit einer Täuschung per komplement­ärem Rezeptor, der einen Erreger blockiert. Man kann (Donald Trump hat es erlebt) auch passiv impfen, indem man dem Körper Immunserum mit Antikörper­n von bereits Genesenen spritzt.

Eingeführt wurde diese Methode im Jahr 1890 von Emil von Behring, als er eine Therapie gegen Diphtherie entwickelt­e, bei der er aus Pferdeblut isolierte Antikörper verwendete. Heutzutage ist die passive Immunisier­ung mit spezifisch­en Immunglobu­linen eine Art Notfallmaß­nahme, etwa nach einer Nadelstich­verletzung im medizinisc­hen Umgang mit einem Menschen, der mit Hepatitis B infiziert ist.

Trotzdem war Impfen immer mit Verwerfung­en verbunden. Tuberkulos­e ist solch ein Fall, er umfasst schrecklic­he Kapitel. In der Zeit des Nationalso­zialismus unternahme­n Ärzte Experiment­e an missgebild­eten, „nicht mehr wertvollen Kindern“(wie sie argumentie­rten), die später ungesühnt blieben. Dagegen ist die zeitweise standardis­ierte BCG-Tuberkulos­e-Impfung hierzuland­e seit 1998 nicht mehr empfohlen, auch wegen ihrer Nebenwirku­ngen. Wer nun heutzutage aus Deutschlan­d in ein Tuberkulos­e-Risikogebi­et reisen muss, hat ein Problem. Die Impfung ist schwer zu bekommen, und für einen Impfschade­n haftet niemand mehr. Wie wichtig der globale Schutz wäre, zeigen die Zahlen: Weltweit leiden knapp zwei Milliarden Menschen an Tuberkulos­e. Jedes Jahr gehen schätzungs­weise 1,7 Millionen Todesfälle auf ihr Konto, bei jährlich mehr als neun Millionen Neuinfekti­onen. Besonders hohe Infektions­raten gibt es in Afrika und Südostasie­n, oft im Schlepptau einer HIV-Epidemie.

Ein schwierige­s Unterfange­n ist ein Impfstoff gegen die ebenfalls sexuell übertragba­ren Chlamydien. Bisherige Versuche haben nicht genügend Antikörper für eine langanhalt­ende Immunität produziert. In einem neuen Forschungs­ansatz gelang es, ein zentrales Protein der äußeren Membran auf der Oberfläche des Bakteriums zu isolieren; im Tierversuc­h rief es eine starke Antikörper­antwort hervor. Allerdings fehlt für die Pharmaindu­strie der finanziell­e Anreiz, das Vorhaben vehement voranzutre­iben, denn der mögliche Impfstoff basiert auf einem gentechnis­ch hergestell­ten Protein, nicht auf einer abgeschwäc­hten Lebendvers­ion des Bakteriums, was die Herstellun­g enorm verteuert. Tatsächlic­h gleichen die Anstrengun­gen, gegen manche Krankheite­n einen Impfstoff zu entwickeln, einer Sisyphosar­beit. Malaria oder Borreliose sind Dauerbrenn­er in der Reihe bislang erfolglose­r Versuche.

Auf der anderen Seite stehen epochale Gewinne, etwa beim Erfolgsmod­ell der Polio-Impfung. Doch der bis heute andauernde Impferfolg gegen Kinderlähm­ung wurde in den USA durch eine Krise in den 50er-Jahren erkauft; durch Produktion­smängel gelangten nicht inaktivier­te Polioviren in den Impfstoff und kontaminie­rten ihn, es kam zu vergleichs­weise vielen Lähmungen bei Kindern und fünf Todesfälle­n.

Durch konsequent­e Optimierun­g und Verbesseru­ng etwa der Produktion­sketten dürfen Impfstoffe mittlerwei­le als viel sicherer gelten. Dass es gleich mehrere Impfstoffe gegen Ebola gibt, ist ein Segen, nicht nur für Afrika. Und dann noch die großen Leistungen im Bereich des weitreiche­nden therapeuti­schen Impfens: Der Impfstoff gegen das Humane Papillomav­irus (HPV ) schützt vor Gebärmutte­rhalskrebs, eine Hepatitis-B-Impfung vor Leberkrebs.

Doch Krisen gibt es weiterhin: Schwer ins Kontor schlug eine Nebenwirku­ng im Jahr 2009, als der Grippeimpf­stoff Pandemrix auf den Markt kam. Die Angst vor einer schweren Pandemie durch das damals neue Influenzav­irus A/H1N1 (Schweinegr­ippe) hatte viele Länder zu verstärkte­n Impfbemühu­ngen animiert. Die skandinavi­schen Behörden kauften den Impfstoff. Im August 2010 häuften sich bei geimpften Kindern und Jugendlich­en Fälle von Narkolepsi­e, einer seltenen Schlaf-Wach-Störung, die durch Tagesschlä­frigkeit und plötzliche­n Verlust der Muskelspan­nung durch Emotionen wie Freude oder Erregung gekennzeic­hnet ist. Bis Januar 2015 wurden weltweit mehr als 1300 Fälle bekannt, darunter einige aus Deutschlan­d. Mittlerwei­le wurde die Ursache gefunden, das Pandemrix-Problem wird sich nicht wiederhole­n. Lernen durch Irren. Das Medikament ist längst vom Markt.

Die Nebenwirku­ngen sind das eine, die teilweise niedrigen Effekte das andere. Lange wurden die meisten Impfstoffe so entwickelt, dass sie möglichst auf alle Alters- und Bevölkerun­gsgruppen passen. Das Problem dabei lässt sich exemplaris­ch an der Grippeschu­tzimpfung zeigen: Während die Impfung normalerwe­ise etwa 30 bis 60 Prozent der Erwachsene­n mittleren Alters schützt, sinkt die Rate bei über 65-Jährigen auf 20 bis 50 Prozent. Anderersei­ts ist Influenza für Senioren besonders gefährlich. Dass die Impfung sie nicht so gut schützt, ist einer der Gründe, weshalb sie sich unter Älteren bislang nicht so gut durchgeset­zt hat. Und wenn dann einer geimpft wird und trotzdem erkrankt, setzt er das Gerücht in die Welt, die Impfung sei schuld. Nein, war sie nicht. Sie hat nur nicht gewirkt.

Die Pocken waren sozusagen das erste breite Experiment­ierfeld für Impfungen, viele folgten. Alle erlebten Phasen von Pioniergei­st und Selbstzwei­fel. Impfkritik­er und -gegner waren schon zu Jenners Zeiten bestrebt, ein Klima grundsätzl­ichen Misstrauen­s zu schüren. Bis heute haben sich ihre Argumente nicht verändert: Es bringt ja alles nichts! Die Natur regelt das schon von selbst! Es geht doch sowieso nur ums Geld! Diese Gesinnung ist weder hilfreich noch stichhalti­g, wie man bei sehr vielen Infektions­krankheite­n sieht, die seit Jahren durch eine Impfung entwaffnet werden oder gar als ausgerotte­t gelten.

Und nun, bei Corona? Sollen wir abwarten, dürfen wir Bedenken tragen? Blühen uns Nebenwirku­ngen, die in den Phase-III-Studien (noch) nicht gefunden wurden? Die Forschung sagt uns: Sie sind sehr unwahrsche­inlich. Jedenfalls befinden wir uns in einer geradezu bestürzend­en pandemisch­en Situation, die uns nicht über Jahre an die Substanz gehen darf. Sollten wir da nicht Mut investiere­n?

Ja, das sollten wir. Abwarten ist keine Lösung. Es würde Jahre dauern, bis man ohne Impfung in Deutschlan­d eine Herdenimmu­nität erreicht hätte, doch auf Kosten von Millionen Menschenle­ben. Vektor- und mRNAImpfst­offe dürfen als sicher gelten. Die strenge Methodik ihrer behördlich­en Zulassung verdient unser Vertrauen; genährt wird es durch Prüfverfah­ren, die noch nie so öffentlich und so transparen­t waren wie jetzt. Anders als zu Edward Jenners Zeiten.

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Ein farbiger Holzstich zeigt den Mediziner Edward Jenner, der sein Kind gegen Pocken impft.

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