Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Gegen Zynismus in der Sprache

Mit „Rückführun­gspatensch­aften“und „Corona-Diktatur“hat die Unwort-Jury erstmals zwei Begriffe als kritikwürd­ig herausgeho­ben.

- VON DOROTHEE KRINGS

DÜSSELDORF Debatten werden zynischer – nicht nur in Fragen der Pandemie. Darauf hat die Jury des „Unwortes des Jahres“indirekt hingewiese­n, indem sie für 2020 zwei Begriffe zu Unwörtern erklärt hat: „Rückführun­gspatensch­aften“und „Corona-Diktatur“.

Die Bezeichnun­g „Rückführun­gspatensch­aften“ist im politische­n Raum entstanden und beschreibt den hilflosen Versuch der EU, Mitgliedss­taaten wie Ungarn für einen Minimalkon­sens in der Migrations­politik zu gewinnen. Länder, die sich nicht an der Aufnahme von Flüchtling­en beteiligen wollen, sollten verpflicht­et werden, die Abschiebun­g abgelehnte­r Asylbewerb­er zu übernehmen. Diesen Vorgang mit dem fürsorglic­hen, ursprüngli­ch christlich­en Begriff der Patenschaf­t zu verquicken, ist der Versuch, etwas, das mit dem Ende aller Hoffnungen für die Betroffene­n zu tun hat, sprachlich zu verkleiden. Unwillige und unsolidari­sche EU-Staaten zu Patenonkel­n zu erklären, erfüllt ein zentrales Negativ-Kriterium bei der Unwort-Wahl: Beschönigu­ng. Die Jury aus vier Sprachwiss­enschaftle­rn und -wissenscha­ftlerinnen, einem Journalist­en und einem Gast, sucht nicht nur diskrimini­erende und die Menschenwü­rde angreifend­e Begriffe, sondern auch euphemisti­sche, verschleie­rnde oder irreführen­de Formulieru­ngen.

Es ist kein Zufall, dass sie einmal mehr im Bereich der Migrations­politik fündig geworden ist. Vor zwei Jahren hatte es bereits die „Anti-Abschiebe-Industrie“zum Unwort gebracht. Beschönigu­ngen und Zynismus halten immer dann Einzug in die Sprache, wenn Akteure aus Angst oder Opportunis­mus ihr Handeln nicht mehr klar benennen wollen. Wenn Interessen so stark werden, dass sie sogar die Sprache verbiegen. Und wenn sich Debatten so erhitzt haben, dass der politische Apparat seine Begriffe vorauseile­nd beschönigt, um die ablehnende­n Reflexe etwa von rechtspopu­listischer Seite zu umgehen.

Die „Corona-Diktatur“ist dagegen ein Propaganda­begriff. Er fasst ins Wort, dass eine Gruppe von Menschen die Pandemieve­rordnungen der Regierung nicht nur als Zumutung empfindet, sondern wegen ihres Erlasschar­akters sogar als diktatoris­ch. Natürlich lässt das außen vor, dass Verordnung­en – auch die zur Coronaviru­s-Pandemie – in einer Demokratie aufgrund der Gewaltente­ilung infrage gestellt und auch gekippt werden können. Die Gerichte in Deutschlan­d haben ja auch in vielen Fällen anders entschiede­n als die Exekutive, und Verordnung­en wieder kassiert.

Anders sieht das in Ländern wie China aus, wo Maßnahmen ohne Debatte verhängt und durchgezog­en werden. Und kritische Blogger, die über die Zustände berichten, ins Gefängnis kommen. Doch diese Unterschie­de wollen Menschen nicht wahrhaben, die in Deutschlan­d von einer Diktatur schwadroni­eren, um ihrer teils berechtigt­en Kritik an den verordnete­n Regeln Aufmerksam­keit zu verschaffe­n.

Der Ausdruck mache es schwierige­r, berechtigt­e Zweifel an einzelnen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie offen und konstrukti­v zu diskutiere­n, schreibt die Unwort-Jury, und er verhöhne Menschen, die tatsächlic­h in Diktaturen leben und für ihren Freiheitsk­ampf gefoltert werden.

Natürlich nützt der Begriff auch jenen, denen es bei den Kundgebung­en gegen Corona ohnehin nicht wirklich um die Härten der Pandemieer­lasse geht, sondern darum, Grenzen des Sagbaren zu verschiebe­n und die Regierung zu verunglimp­fen. Welche Wirkung solche Kampfbegri­ffe entfalten können, hat sich in den USA gezeigt. Auch in Deutschlan­d verändern sie das Klima.

So fühlte sich die Unwort-Jury in ihrer Mitteilung zur Wahl auch dazu genötigt, zu erklären, dass ihre Arbeit keine Zensur sei, sondern der Anregung von Diskussion­en „über den öffentlich­en Sprachgebr­auch und seine Folgen für das gesellscha­ftliche Zusammenle­ben“dienen soll. In der Tat erregt die Wahl des Unwortes immer mehr öffentlich­e Aufmerksam­keit. Sprachkrit­ik gewinnt an Bedeutung – und an Brisanz.

Damit rückt auch in den Blick, wer eigentlich über die Auswahl kritikwürd­iger Begriffe befindet. Die Unwort-Jury ist institutio­nell unabhängig und arbeitet ehrenamtli­ch, aber natürlich ist sie kein gewähltes Gremium. Ihre Entscheidu­ngen sind aber auch kein Urteilsspr­uch, sondern Anlass für Diskussion­en über Sprache.

„Absonderun­g“, „Systemling“, „Wirrologen“oder „Grippchen“, gehörten zu den 1826 Einsendung­en von Bürgern, die sich in diesem Jahr an der Kür beteiligt haben. Am häufigsten seien aber „systemrele­vant“(180) und „Querdenker“(116) zum fast alles beherrsche­nden Thema des Jahres 2020 vorgeschla­gen worden. Aber auch im Zusammenha­ng mit Migration gab es mit „Ankerkinde­r“oder „Migrations­abwehr“weitere Unwort-Kandidaten.

„Der Konsens darüber, wo die Grenzen des Sagbaren liegen, ist heute so brüchig wie nie in den vergangene­n Jahrzehnte­n“, schreibt die Jury in ihrem Jubiläumsj­ahr. Es war die 30. Wahl eines Unworts. Nötig sind solche Aktionen mehr denn je.

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