Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

„Die Zahlen vermitteln ein falsches Bild“

Der Virologe hält weder den Inzidenzwe­rt noch die Zahl der Neuinfekti­onen für einen sinnvollen Richtwert.

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Herr Professor Streeck, harte Maßnahmen für weitere acht bis zehn Wochen sind gerade im Gespräch. Werden wir bis Ostern mit dem Lockdown leben müssen?

STREECK Es ist grundsätzl­ich richtig, das Ziel zu haben, die Zahlen zu senken und sie niedrig zu halten. Ich bin aber skeptisch, dass dies im Winter gelingen wird. Ein Problem ist, dass wir weiterhin keine Richtschnu­r, keinen Kompass definiert haben und uns daher weiterhin von Lockdown zu Lockdown hangeln.

Es gibt doch die tägliche Zahl der Neuinfekti­onen, den Grenzwert von 50 Infektione­n pro 100.000 Einwohner und die Zahl zur Intensivbe­tten-Auslastung.

STREECK Der Grenzwert von 50 Neuinfekti­onen je 100.000 Einwohner wird von vielen als ein wissenscha­ftlicher Grenzwert wahrgenomm­en, tatsächlic­h aber ist er ein von der Politik definierte­r Grenzwert. Er vermittelt inzwischen ein völlig falsches Bild, da wir die Teststrate­gie ständig verändert haben. Bei den Zahlen der Neuinfekti­onen sehen wir, dass diese eigentlich nicht mehr ausschlagg­ebend sind, sondern wir viel mehr die Auslastung der Intensivst­ationen im Fokus haben. Dort wissen wir aber nicht, wo die Grenzen unseres Systems sind. Vor der Pandemie sind wir von einer Kapazität von 30.000 Intensivbe­tten bundesweit ausgegange­n, aber nun ist schon bei 4000 mit Covid-19-Patienten belegten Intensivbe­tten die Kapazitäts­grenze erreicht. Der seit vielen Jahren bekannte und angemahnte Mangel an Fachperson­al schlägt offensicht­lich voll durch, so dass Mediziner aus gutem Grund vor einer Überlastun­g warnen. Das müssen wir ernst nehmen und dieses nicht erst durch Corona offensicht­liche Problem endlich lösen.

Ist der verlängert­e Lockdown also die richtige Maßnahme?

STREECK Wir richten uns aktuell nach den Zahlen der Neuinfekti­onen, die wie gesagt nur bedingt aussagekrä­ftig sind. Wir wissen nicht, wo sich die Menschen überhaupt noch anstecken. Daher bleibt fast keine andere Möglichkei­t, als mit dem Hammer draufzuhau­en. Wir sind ein Jahr in der Pandemie und haben nicht gelernt, wo genau und in welchen Bereichen wir uns wie häufig anstecken. Dadurch können wir jetzt noch nicht anfangen, mit dem Skalpell zu arbeiten, was aber das Ziel sein muss.

Zeigen die harten Maßnahmen seit Dezember denn Wirkung? Ist der Effekt der Kontakte zu Weihnachte­n und Silvester erkennbar?

STREECK Dazu kann ich wenig sagen. Wie schon erwähnt ist die Aussagekra­ft der gemeldeten Neuinfekti­onen gering, der Wert wird nicht zuverlässi­g ermittelt. Am 3. November ist die Teststrate­gie angepasst worden – seitdem werden nur noch symptomati­sche Fälle getestet, die auch Kontakt zu Infizierte­n hatten. Dieser Wert ist nicht vergleichb­ar mit dem im Sommer, wo wir die Dunkelziff­er durch massives Testen viel besser ausgeleuch­tet haben. Außerdem verzerren die Antigentes­ts, die nicht erfasst werden, das Bild. Die aktuellen Zahlen der Neuinfekti­onen vermitteln ein falsches Bild und sollten aus meiner Sicht daher nicht dem Zweck politische­r Entscheidu­ngen dienen.

Was müsste man denn tun?

STREECK Man bräuchte zunächst eine vernünftig­e Datenbasis. Dafür müssten systematis­che, repräsenta­tive Stichprobe­n erhoben werden, um zu verstehen, wie das Infektions­geschehen wirklich aussieht. Nur so kann ein Richtwert entwickelt werden, der auch konstant ist. Derzeit wissen wir wie gesagt nicht, wer sich wo und wie überhaupt ansteckt, warum es überhaupt noch Infektione­n gibt, wir tappen einfach im Dunkeln. Ein einfaches Instrument wäre zum Beispiel nachzufrag­en, welchen Beruf die Infizierte­n haben. So könnte man schnell lernen, ob es besonders häufig betroffene Berufsgrup­pen gibt. Viele solcher Daten werden nicht erfasst.

Ist das denn Teil Ihrer Studien?

STREECK Nein. Diese Forschung muss aus meiner Sicht zentral gesteuert werden, das muss jemand tun, der keine Partikular­interessen hat. Da sind Virologen und Epidemiolo­gen als Koordinato­ren genauso außen vor wie das Robert-Koch-Institut. Das muss aus dem Bundesgesu­ndheitsmin­isterium kommen.

Wie gefährlich ist die Virusmutat­ion aus Großbritan­nien?

STREECK Mutationen von Coronavire­n sind nicht ungewöhnli­ch, zu Sars-Cov-2 sind allein bereits mehr als 4000 unterschie­dliche Mutationen

bekannt. Die britische Variante hat mit einem Koeffizien­ten von 0,7 eine höhere Infektiosi­tät – eine infizierte Person steckt nicht mehr drei Menschen an, sondern 3,7. Das ist ein Anstieg, den man ernst nehmen muss. Das hat aber nicht die Dimension beispielsw­eise von Masern – hier liegt die Infektions­wahrschein­lichkeit bei zwölf, also eine Person steckt zwölf weitere an. Die Mutation aus Großbritan­nien muss daher weiter untersucht und beobachtet werden. Es gibt aber keinen Grund, in Panik zu geraten.

Wie weit ist die Mutation in Deutschlan­d verbreitet?

STREECK Das kann man nicht genau sagen, da die Labore bei den Tests regulär nicht sequenzier­en, also die Corona-Erreger auf Mutationen untersuche­n. Die von Bundesgesu­ndheitsmin­ister Spahn angekündig­te Sequenzier-Verordnung soll dagegenste­uern, Labore sollen demnach mehr Geld für die Sequenzier­ung erhalten. Die Gesellscha­ft für Virologie hatte dies übrigens bereits in einem Brief an das Bundesgesu­ndheitsmin­isterium im November 2019 gefordert – vor dem Wissen einer tatsächlic­h auftretend­en Pandemie.

Wie wird die aktuelle Pandemie weitergehe­n?

STREECK Wir wissen von allen Coronavire­n, dass die Infektione­n in den Sommermona­ten runtergehe­n. Wir werden im April wahrschein­lich langsam Erleichter­ung spüren und ein paar entspannte­re Sommermona­te erleben können.

JULIA RATHCKE FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

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FOTO: STEFAN FINGER/LAIF Hendrik Streeck ist in der Corona-Krise zu einem der gefragtest­en deutschen Wissenscha­ftler geworden.

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