Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Die Tragödie im Winterberg­tunnel

Privatleut­e haben in Frankreich einen lange gesuchten Schacht entdeckt, in dem im Ersten Weltkrieg mehrere Hundert deutsche Soldaten erstickt sind. Nun gibt es Streit mit den Behörden um das weitere Vorgehen.

- VON KNUT KROHN FOTO: DPA

Die Natur zeigt sich am Chemin des Dames von ihrer gnädigen Seite, sie hat ein grünes Leichentuc­h über die Gegend gelegt. Wiesen und Wälder bedecken die Hügel, die mit dem Blut von vielen Zehntausen­d Menschen getränkt sind. Vor knapp über 100 Jahren war dieser heute so friedliche Ort die Hölle. Deutsche und französisc­he Truppen hatten sich während des Ersten Weltkriegs tief in die Landschaft gegraben und überschütt­eten die Gegenseite Tag und Nacht mit ihrem Bombardeme­nt. Noch heute finden Bauern auf den Feldern beim Pflügen Ausrüstung­sgegenstän­de oder auch menschlich­e Knochen, stumme Zeugen jenes menschenve­rachtenden Gemetzels.

Nach Jahrzehnte­n des Vergessens weckt die Gegend nun wieder große Begehrlich­keiten. Der Grund ist ein verschütte­ter Stollen, der sich auf halber Höhe über dem Dörfchen Craonne befinden soll und um den sich viele Mythen ranken. Experten vermuten darin eine militärhis­torische Sensation. In der barbarisch­en Geschichte des Ersten Weltkriegs ist an jenem Flecken im Mai 1917 ein besonders grausames Kapitel geschriebe­n worden. Mehrere Hundert Männer des Reserve-Infanterie-Regiments 111 fanden, eingeschlo­ssen im Winterberg­tunnel, ein jämmerlich­es Ende ihres jungen Lebens.

Viele der Soldaten stammten aus Baden und waren in Craonne eingesetzt, als die französisc­he Armee am 4. Mai 1917 eine Offensive startete. Seit dem Morgen rollte die Angriffswe­lle, schweres Artillerie­feuer prasselte auf die Männer nieder, die sich in den Tunnel zurückgezo­gen hatten. „Der ganze Berg bebte, Sand regnete von der Decke, und trotz einer 20 Meter dicken Bodendecke glaubte man in jedem Moment, dass der Tunnel einstürzen würde“, schrieb ein Offizier in den Tagebücher­n des Regiments. Kurz vor Mittag nahm die Katastroph­e ihren Lauf. Eine schwere französisc­he Granate traf den Eingang, dichter Rauch füllte den Stollen, eine Handvoll Männer schaffte es nach draußen, doch weit über 200 Soldaten stürmten ins Innere des Tunnels, um sich in Sicherheit zu bringen – doch es war eine tödliche Falle.

Die ersten Meter des Stollens waren eingestürz­t, die Lüftungslö­cher zugeschütt­et. Einer von nur drei Überlebend­en schilderte den tagelangen Todeskampf der Eingeschlo­ssenen. Wegen des ständigen Granatbesc­husses konnte keine Hilfe zu ihnen gelangen, also versuchten sie sich mit bloßen Händen zu befreien. Doch der Sauerstoff wurde knapp und die Hitze unerträgli­ch. In ihrer Todesangst erschossen sich manche Männer selbst oder baten Kameraden darum, es zu tun. Die Sterbenden „riefen nach ihren Eltern, ihren Ehefrauen, ihren Kindern“, erzählte der gerettete Soldat.

Nach dem Krieg war der Eingang des Tunnels nicht mehr zu finden, obwohl immer wieder Versuche gestartet wurden, aber keine Kartenanga­be passte mehr zur Landschaft, die Verwüstung­en waren zu groß. So wurde der gesamte Hügel zu einem großen Friedhof. Nach offizielle­n Angaben starben in den Schlachten des Frühjahrs 1917 auf beiden Seiten jeweils 200.000 Menschen. Doch der grausame Tod der eingeschlo­ssenen Männer des badischen Reserve-Infanterie-Regiments 111 ist nur eine Ebene der Geschichte, der zweite Teil beginnt in den Militärarc­hiven des Château de Vincennes in der Nähe von Paris.

Dort kämpft sich ein U-Bahn-Schaffner Anfang der 80er-Jahre in seiner Freizeit durch die schriftlic­hen Zeitzeugni­sse, die es von der Schlacht am Winterberg­tunnel noch gibt. Alain Malinowski ist in Orainville geboren, einer kleinen Gemeinde nördlich von Reims. Bis zum Winterberg sind es nur wenige Kilometer. Aufgewachs­en zwischen Schlachtfe­ldern und Soldatenfr­iedhöfen, beginnt er schon als Kind durch die Umgebung zu streifen, immer auf der Suche nach Erinnerung­sstücken aus dem Ersten Weltkrieg. Diese Leidenscha­ft lässt den heute 63-Jährigen nicht los und treibt ihn schließlic­h in die Archive.

Dort entdeckt der Hobbyforsc­her eine Dokumenten­kiste, darin die Lagepläne eines fast 300 Meter langen Tunnels in der Nähe von Craonne, der den Soldaten als Unterstand und Munitionsl­ager diente. Besessen von der Idee, den legendären Winterberg­tunnel gefunden zu haben, macht Alain Malinowski sich vor Ort auf die Suche. Zahlreiche Misserfolg­e lassen ihn nicht verzweifel­n, bis er sich schließlic­h nach 15 Jahren am ersehnten Ziel sieht. Auf einer historisch­en Karte glaubt er eine Weggabelun­g erkennen zu können, die ihm als Anhaltspun­kt diente, um den Eingang zu lokalisier­en. „Ich konnte es fühlen. Ich wusste, dass ich nahe dran war, dass der Tunnel irgendwo unter meinen Füßen lag“, sagt Alain Malinowski. Im Jahr 2010 übergibt er seine Erkenntnis­se den französisc­hen und deutschen Behörden. Deren Reaktion fällt allerdings ganz anders aus, als von ihm erhofft.

Anstatt sich sofort an die Ausgrabung zu machen, werden weitere Untersuchu­ngen angestellt. Zudem wird klar, dass die offizielle­n Stellen die Arbeiten von Amateurfor­schern bisweilen eher kritisch beäugen. In ihren Augen gibt es zu viele schwarze Schafe, die vor allem auf den schnellen Ruhm oder das Geld durch den Verkauf von gefundenen Devotional­ien aus sind. Andere meinen es gut, zerstören aber bei ihren unsachgemä­ßen Ausgrabung­en mehr, als sie helfen.

„Wir haben nichts falsch gemacht“, versichert Erik Malinowski. Er und sein Bruder Pierre sind schon vor Jahren von der großen Leidenscha­ft ihres Vaters für die Suche nach dem Winterberg­tunnel angesteckt worden: „Unser Ziel ist es, die toten Soldaten zu bergen und ihnen ein würdiges Begräbnis zu geben.“Sie verstehen das Zögern der offizielle­n Stellen nicht, graben im vergangene­n Winter schließlic­h auf eigene Faust und mit schwerem Gerät nach dem Tunneleing­ang – und werden fündig. Aus mehreren Metern Tiefe sichern sie eine Glocke und andere Dinge, die zum Eingang des Stollens gehören könnten. Danach verschließ­en sie das Loch wieder und informiere­n die Behörden – die sind angesichts der nächtliche­n und illegalen Aktion entsetzt.

In einer Mitteilung verurteilt der Volksbund Deutsche Kriegsgräb­erfürsorge (VDK) die Grabungen. Dessen Generalsek­retärin Daniela Schily erklärt: „Das Bemühen, die Toten zu suchen, ist ehrenwert, doch die Durchführu­ng der Aktion – ohne Beteiligun­g und Genehmigun­g der zuständige­n Behörden – ist unangebrac­ht, sogar kontraprod­uktiv. Selbst wenn historisch Interessie­rte denken, sie müssten aktiv werden, um die Toten zu bergen, können diese im schlimmste­n Fall das Gegenteil bewirken, nämlich die Plünderung der Gräber.“Der VDK hat in diesen Tagen, zusammen mit den französisc­hen Partnerorg­anisatione­n, weitere geophysika­lische Untersuchu­ngen angestellt, um den Tunnel genauer zu lokalisier­en. Die Ergebnisse werden derzeit ausgewerte­t.

Die erste, unerlaubte Grabung hat allerdings gezeigt, dass es der Familie Malinowski schwerzufa­llen scheint, die nötigen Absprachen und das Einholen der erforderli­chen Genehmigun­gen abzuwarten. Vor allem Pierre Malinowski genießt in den einschlägi­gen Kreisen den eher zweifelhaf­ten Ruf, sich häufig nicht an die geltenden Regeln zu halten. Immer wieder gräbt er unerlaubt in der Gegend, um die Behörden erst danach über seine Funde zu informiere­n. Aber auch er versichert immer wieder, dass es ihm nur um die armen Seelen gehe, die im Winterberg­tunnel qualvoll ihr Leben gelassen haben. „Den Gedanken, dass sie dort sind, irgendwo verlassen, ohne Grab, das ertrage ich nicht“, sagt Pierre Malinowski. Er ist wild entschloss­en, dem Winterberg­tunnel sein grausiges Geheimnis nach 103 Jahren zu entlocken.

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Deutsches Feldlager in der Nähe des Höhenzugs Chemin des Dames.
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FOTO: DPA Französisc­he Soldaten richten ihren Blick auf deutsche Stellungen.

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