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Die Macht des Ausgleichs

Der NRW-Ministerpr­äsident und Bundespräs­ident Johannes Rau prägte einen Politiksti­l, der heute Spaltungen überwinden könnte. Der 2006 verstorben­e große Sozialdemo­krat wäre am Samstag 90 Jahre alt geworden.

- VON MARTIN KESSLER

Es gibt Politiker, über die die Zeit hinweggega­ngen ist. Wer kennt heute noch Heinz Kühn (SPD) oder Franz Meyers (CDU), die beide das Land Nordrhein-Westfalen längere Zeit als Ministerpr­äsidenten geführt haben? Auch die Erinnerung an Peer Steinbrück, Jürgen Rüttgers oder Hannelore Kraft verblasst, obwohl ihre Regierungs­zeit noch nicht allzu lange her ist. Der SPD-Politiker Johannes Rau bleibt da eher im kollektive­n Gedächtnis verhaftet. Viele verbinden noch immer mit ihm einen Politiksti­l, der im Wahl-Motto „Versöhnen statt spalten“seinen bekanntest­en Ausdruck fand. Auch die Kampagne „Wir in NRW“brachte Rau 1985 sage und schreibe 52 Prozent und damit der SPD das beste Ergebnis in diesem Land ein. Am Samstag wäre der 2006 verstorben­e Sozialdemo­krat 90 Jahre alt geworden.

Rau war 20 Jahre lang Ministerpr­äsident des bevölkerun­gsreichste­n Bundesland­es. Zwar waren mit seiner Amtszeit wichtige Entscheidu­ngen verbunden wie der Ausstieg aus der Kernenergi­e, der Strukturwa­ndel im Ruhrgebiet und die Wende in der Verkehrspo­litik. Doch sein Weggefährt­e und Verkehrsmi­nister Christoph Zöpel (SPD) hält etwas anderes für bedeutsame­r: „Seine größte Leistung bestand darin, dass es in seiner Amtszeit keine ernsten inneren Konflikte im Kabinett und mit seiner Partei gab.“

Der neben Karl Arnold bedeutends­te Ministerpr­äsident in Nordrhein-Westfalen lebte seinen Politiksti­l. In seinem Auftreten war er stets darauf bedacht, Konflikte – vor allem persönlich­er Art – zu entschärfe­n. Da halfen ihm sein Humor und seine Schlagfert­igkeit, aber auch die

Erziehung als Sohn eines Predigers. Gerade die SPD, die um die großen Themen bisweilen unversöhnl­ich stritt, prägte er mit seinem Ansatz. Diskussion­en in der Sache waren ihm willkommen, durch persönlich­e Ambitionen geprägte Machtkämpf­e nicht. „Solche Konflikte sind leistungsh­emmend“, meint der SPD-Politiker Zöpel.

Vor diesem Problem steht jetzt die NRW-SPD. Dort tobt eine persönlich geprägte Auseinande­rsetzung um den Parteivors­itz. Da ist Landeschef Sebastian Hartmann, der als Bundestags­abgeordnet­er gute Arbeit leistet, aber als Vorsitzend­er des größten SPD-Landesverb­ands überforder­t scheint. Auf der anderen Seite der Chef der Landtagsfr­aktion, Thomas Kutschaty, der sich für die Spitzenkan­didatur warmläuft und die ganze Macht will. Ausgerechn­et im Land von Johannes Rau, ihrem einstigen Stammland NRW, sind die Sozialdemo­kraten meilenweit von der Regierungs­fähigkeit entfernt. Auch in Raus Zeit prägten sehr unterschie­dliche Charaktere die Landespoli­tik: der polternde Friedhelm Farthmann, der bei den Arbeitern gut ankam, der debattenst­arke Intellektu­elle Christoph Zöpel und der konservati­ve Finanzpoli­tiker Dieter Posser, der sich um die Landesfina­nzen sorgte. Trotzdem schaffte die Vaterfigur Rau den Ausgleich – er führte, aber er überfuhr seine Mitstreite­r nicht.

Die SPD bündelte damals die Kräfte links der Mitte, CDU und FDP jene rechts dieser Scheidelin­ie. Selbst die anfangs von ihm nicht sehr geschätzte­n Grünen band Rau in die Regierungs­bildung ein, indem er ökologisch­e Positionen übernahm, aber nicht zu deren Propagandi­st wurde. Der kluge Ausgleich zwischen Debattenku­ltur und Vermeidung

Johannes Rau vertrat Werte, die sich stabilisie­rend auf die Demokratie auswirkten

unnötiger Richtungsk­ämpfe gelang dem Sozialdemo­kraten, auch wenn manche notwendige Anpassung in Wirtschaft und Gesellscha­ft bei dieser Konfliktve­rmeidungss­trategie unterblieb, wie Kritiker finden.

Das unterschei­det die Politik Raus auch von der Angela Merkels, die ihm sonst in ihrem Politikver­ständnis eher gleicht. Die Kanzlerin ging beim endgültige­n Ausstieg aus der Kernenergi­e oder in der Flüchtling­spolitik durchaus den Konflikt mit ihrer Partei ein und ließ sogar zu, dass sich eine Rechtsauße­npartei wie die AfD etablieren konnte. Da hatte es Rau mit den regierungs­willigen Grünen leichter, auch wenn er dazu eine längere Zeit der Gewöhnung brauchte.

Der kurzfristi­ge Erfolg, der heute maßgeblich die Politik vieler Ministerpr­äsidenten oder anderer Funktionst­räger in Bund und Ländern prägt, war Rau nicht so wichtig, auch wenn er stets auf Umfragewer­te achtete. Er gab den Wählern das Gefühl, dass er über den parteipoli­tischen und aktuellen Tellerrand blickte, aber doch versuchte, auf Augenhöhe zu kommunizie­ren.

Ob er in die heute oft so aufgeheizt­e politische Debatte, angefacht durch die sozialen Medien, wieder mehr Ruhe und Sachlichke­it bringen würde, ist offen. Als Bundespräs­ident gelang es ihm schon weniger, das Meinungskl­ima zu beeinfluss­en, obwohl er sich dieses Amt sehr gewünscht hatte. Für Nordrhein-Westfalen machte er vor, dass sich eine soziale Absicherun­g, eine sachliche Streitkult­ur und die Betonung von Gemeinsinn und Verantwort­ung stabilisie­rend auf die Demokratie auswirken können. Weil er sich so als Demokrat verstand, würde er auch heute ein Beispiel geben, dass unser Gemeinwese­n eine gemeinsame Grundlage braucht – die der Toleranz, der Redlichkei­t und der Akzeptanz, dass niemand von vornherein die richtige Lösung parat hat.

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