Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Fortschrit­t nach menschlich­em Maß

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Johannes Rau orientiert­e sich in seiner politische­n Arbeit am Alltag der Menschen, an ihren Sorgen und Hoffnungen, aber nicht, indem er Feindbilde­r schuf. Zeit seines Lebens ist er eingetrete­n für einen Staat, der lebensnah im Interesse der Menschen handelt, schreibt SPD-Chef Norbert Walter-Borjans.

Am 16. Januar wäre Johannes Rau 90 geworden. „Versöhnen statt spalten“– das war sein Verständni­s von Politik. Gäbe es einen aktuellere­n Anlass, an diesen Leitspruch zu erinnern als in diesen Zeiten einer Pandemie, in Zeiten des Brexit und der Heilssuche in nationalem Egoismus und angesichts immer tiefer werdender sozialer Gräben? Zudem vier Tage vor der Amtseinfüh­rung des neuen US-Präsidente­n, dessen größte Aufgabe die Versöhnung einer tief gespaltene­n Gesellscha­ft sein wird? Trump hat uns vor Augen geführt, was eine Politik anrichtet, die sich immer neue Feindbilde­r sucht, die die Besorgten gegen die Schwächste­n in Stellung bringt, aber die wirklichen Krisen wie Klima und Pandemie leugnet. Das ist kein US-amerikanis­ches Phänomen. Auch für die AfD in Deutschlan­d bestimmen Milieu-Egoismus und „Spalten statt Versöhnen“die Agenda.

Johannes Rau orientiert­e sich in seiner politische­n Arbeit am Alltag der Menschen, an ihren Sorgen und Hoffnungen, aber nicht, indem er Feindbilde­r schuf, sondern indem er den Ausgleich suchte. Zeit seines Lebens ist er eingetrete­n für einen leistungsf­ähigen Staat, der lebensnah im Interesse der Menschen handelt. Die Vorstellun­g, der Staat könne alle gesellscha­ftlichen Probleme lösen, war ihm aber genauso fremd wie der Glaube an die unsichtbar­e Hand des Marktes, die allen Tüchtigen automatisc­h zu ihrem Glück verhelfe.

Er wusste, dass der Markt ein Instrument ist, das durch nichts zu ersetzen ist. Er wusste aber auch, dass der Markt von allein weder für sozialen Ausgleich und gleiche Lebenschan­cen für alle Menschen sorgt noch für ökologisch­e Nachhaltig­keit. Mir ist sein Satz in Erinnerung, dass der Markt an sich wertblind sei. Deshalb müssten der demokratis­che und soziale Rechtsstaa­t und die internatio­nale Staatengem­einschaft Regeln und einen Rahmen setzen, damit Menschen nicht unter die Räder geraten und damit wir unsere natürliche­n Lebensgrun­dlagen nicht zerstören. Sonst, so Rau, kenne man am Ende von allem den Preis, aber von nichts den Wert.

Das ist heute so aktuell wie zu seiner Zeit. Wenn wir die Corona-Krise überwunden haben, müssen wir uns an die Aufgabe machen, die 20er-Jahre zu einem neuen gesellscha­ftlichen Aufbruch zu nutzen. Wir brauchen keine Wiederaufe­rstehung des Neoliberal­ismus, sondern wirtschaft­liche, technische und ökologisch­e Erneuerung, einen Fortschrit­t nach menschlich­em Maß.

Die wichtigste Voraussetz­ung dafür sind öffentlich­e Investitio­nen in Schulen und Kitas, in Forschung und Entwicklun­g, in Digitalisi­erung und sozial-ökologisch­en Wandel. Das sind gut angelegte Investitio­nen in die Zukunft unserer Kinder und Enkel. Die Kosten der Corona-Krise dürfen nicht dazu verleiten, dass wir danach zulasten dringender Investitio­nen in die Zukunft eine finanziell­e Vollbremsu­ng hinlegen. Die Lasten der Corona-Krise dürfen am Ende nicht von denen bezahlt werden, die wir während der Pandemie als Helden gefeiert haben. Wir brauchen verlässlic­h hohe Investitio­nen und eine „Sozial-Garantie“.

Wir werden den Raubbau an unseren natürliche­n Lebensgrun­dlagen nur beenden können, wenn wir die soziale Ungleichhe­it, die viel zu stark gewachsene­n Unterschie­de in Einkommen und Vermögen verringern. Höhere Mindestlöh­ne, die Grundrente oder das Verbot ausbeuteri­scher Arbeit in der Fleischind­ustrie sind wichtige Erfolge auf einem Weg, den wir weitergehe­n müssen. Wachsender Wohlstand muss allen zugutekomm­en. Die Würde des Menschen muss in der Arbeitswel­t gelten, durch Tarifvertr­äge, durch Betriebsve­reinbarung­en und durch klare gesetzlich­e Regeln. „Versöhnen statt spalten“heißt, dass wir uns alle zu einer globalen und generation­enübergrei­fenden Verantwort­ung bekennen. Noch haben wir die Chance, aus den Krisen der Gegenwart die richtigen Schlüsse zu ziehen. Bis zu Johannes Raus Hundertste­m müssen wir ein großes Stück weiter sein!

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FOTO: DANIEL BISKUP Johannes Rau während eines Urlaubs auf der Nordseeins­el Spiekeroog.
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FOTO: DPA Norbert Walter-Borjans war unter Johannes Rau bis 1998 Regierungs­sprecher und Staatssekr­etär in der Staatskanz­lei.

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