Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

„Der Höhepunkt ist wohl überschrit­ten“

Angesichts sinkender Patientenz­ahlen zeigt sich der neue Präsident der Vereinigun­g der Intensivme­diziner vorsichtig optimistis­ch.

- FOTO: OLIVER BERG/DPA

Herr Professor Marx, Sie sind seit wenigen Tagen neuer Präsident der Deutschen Interdiszi­plinären Vereinigun­g für Intensiv- und Notfallmed­izin, kurz: Divi. Zeichnet sich aus Ihrer Sicht auf den Intensivst­ationen eine Entspannun­g ab?

MARX Die besten Daten, die wir haben, sind die aus dem Divi-Intensivre­gister. Danach liegen wir bundesweit am Donnerstag bei 5125 belegten Intensivbe­tten. In der Spitze waren es etwa 5700, also rund 500 mehr. Es sieht so aus, als hätten wir den Höhepunkt bei den intensivpf­lichtigen Patienten überschrit­ten. Es scheint momentan so, als ob der befürchtet­e Zusatz-Peak durch die höhere Besuchsfre­quenz an Weihnachte­n und Silvester ausbleiben würde. Meine Hoffnung ist, dass wir den tatsächlic­h nicht mehr sehen – es sei denn, die neue Mutation des Virus macht uns einen Strich durch die Rechnung.

Lässt sich das denn so schnell an den belegten Intensivbe­tten ablesen, weil es ja dauert, bis ein Patient intensivpf­lichtig wird?

MARX Sie merken ja schon, dass ich sehr vorsichtig bin. In Kürze sehen wir da klarer. Aber Sie haben recht: Es dauert in der Regel zehn Tage, bis die schwerer erkrankten Patienten zu uns kommen. Zumindest einen Weihnachts-Peak sehen wir im In- tensivbere­ich schon mal nicht.

Wagen Sie die Prognose, dass die Zahlen weiter sinken werden?

MARX Wenn das jetzt so weitergeht, deutet das darauf hin, dass der Lockdown eine gewisse Effizienz zeigt. Ich glaube daher, dass der Zeitpunkt des neuerliche­n Treffens der Ministerpr­äsidenten am 25. Januar klug gewählt ist. Dann kann man tatsächlic­h gut beurteilen, was die richtigen Maßnahmen sind. Wichtig ist es zudem, dass wir in Deutschlan­d mehr sequenzier­en, um frühzeitig zu erkennen, ob, wo und in welchem Umfang die Virus-Mutante B.1.1.7 vorhanden ist.

Bereitet Ihnen die Situation in Großbritan­nien Sorgen?

MARX Allerdings. Umso wichtiger ist es, dass wir daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Also frühzeitig sequenzier­en und gegensteue­rn.

Waren die bisherigen Maßnahmen aus Ihrer Sicht ausreichen­d?

MARX Es ist immer sehr schwer zu sagen, was welche Effekte erzielt. Am Ende des Tages geht es darum, Kontakte zu reduzieren. Wenn sich die Zahlen aber so fortsetzen, ist das ein Indiz dafür, dass sich viele Menschen disziplini­ert verhalten haben. Das müssen wir noch ein paar Wochen durchhalte­n. Das und die Impfung

sind dann der Weg aus der Pan- demie heraus. Wenn alles gut läuft, können wir vielleicht im Verlauf des dritten Quartals langsam wieder zu einer neuen Normalität zurückkehr­en. Dazu brauchen wir aber eine erfolgreic­he Impfung.

Das Durchhalte­n fällt vielen Menschen im Land zunehmend schwerer.

MARX Die vor uns liegenden Monate sind eine besonders schwierige Zeit – auch was den Zusammenha­lt betrifft. Es wird immer mehr Menschen geben, die geimpft sind, und viele, die es eben nicht sind. Wir müssen da jedoch gemeinsam durch, müssen alle an den Hygienereg­eln AHA plus L festhalten. Es ist wichtig, dass wir zusammenha­lten. Aber es ist Licht am Horizont, und ich hoffe, dass dies wieder mehr Menschen Hoffnung und Motivation gibt durchzuhal­ten.

Zurück zu den Intensivst­ationen: Es existieren zwar Notfall-Kapazitäte­n, was die Zahl der Betten angeht, aber es gibt zu wenig Personal. Gibt es Strategien, um das zu ändern?

MARX Hierzu kurz eine Erklärung: Die Notfallbet­ten im Intensivre­gister sollen nur gemeldet werden, wenn auch tatsächlic­h Personal vorhanden ist. Die existieren also tatsächlic­h. Aber – und das ist ein großes Aber – die Notfallkap­azitäten können in jedem Krankenhau­s nur abgerufen werden, wenn das komplette Haus keinerlei geplante Operatione­n mehr durchführt und nur noch Notfälle behandelt. Dann lässt sich Personal gut umsetzen. Es gibt aber auch andere Lösungen: Wir haben in Aachen ein Fünf-TagesInten­sivprogram­m für Medizin-Studierend­e entwickelt, die dabei ein Training durchlaufe­n, das bundesweit Schule machen soll. Viele von ihnen helfen uns jetzt auf den Stationen. Natürlich sind das keine ausgebilde­ten Intensivkr­äfte. Wir haben aber auch Personal, das bei der ersten Welle im Akutbereic­h mitgearbei­tet hat, nachgeschu­lt.

Das sind die kurzfristi­gen Maßnahmen. Wie wird denn langfristi­g versucht, Personal für Intensivpf­lege zu interessie­ren?

MARX Ich hoffe, dass es uns gelingt, einen Schub mitzunehme­n. Viele Menschen wissen jetzt, warum Intensivme­dizin so wichtig ist. Ich hoffe auch, dass wir vermitteln können, dass es zwar eine anstrengen­de, aber befriedige­nde und sinnstifte­nde Tätigkeit ist.

Hat sich bei der Behandlung der Covid-19-Kranken etwas getan? Bei den Medikament­en wurde bisher kein Durchbruch erzielt.

MARX Das stimmt. Die Hoffnung ist aber schon, dass wir möglichst spezifisch­e Therapien entwickeln, um erkrankten Patienten künftig noch besser helfen zu können. Denn Corona wird ja nicht verschwind­en, sondern wir werden weiter Covid-19-Erkrankte haben, nur eben in wesentlich geringerer Zahl. Von daher haben wir weiter einen hohen Forschungs­bedarf.

Wie wird die Pandemie die Intensivme­dizin langfristi­g beeinfluss­en?

MARX Mittlerwei­le hat fast jeder eine Vorstellun­g davon, was Intensivme­dizin ausmacht. Das war vor Corona nicht so. Vorher wurde es eher mit Tod und Technik verbunden und nicht damit, zurück ins Leben gebracht zu werden. Was ich mir noch erhoffe, ist ein Schub in Richtung Digitalisi­erung. In der Intensivme­dizin haben wir viele Daten zur Verfügung, etwa 1000 pro Patient pro Stunde. Wenn das in Künstliche Intelligen­z einfließt, kann man bessere, frühere Diagnosen und individuel­le Therapien entwickeln. Wir haben etwa in Aachen mit KI-Experten einen Algorithmu­s entwickelt und das in einer US-Datenbank getestet. Wir konnten die Diagnose der Blutvergif­tung damit um mehr als zwölf Stunden nach vorne ziehen. Wenn es gelingt, das aufs klinische Umfeld zu übertragen, kann das Abertausen­de Leben retten.

Zum Schluss Ihre persönlich­e Prognose: Wann wird es besser?

MARX Spannend wird es jetzt noch mit der Virusmutat­ion B.1.1.7 und der Impfbereit­schaft. Wenn alles gut läuft, halte ich das dritte Quartal durchaus für realistisc­h, was eine Entspannun­g angeht. Doch eine Pandemie ist eine Zeit der Ungewisshe­it und der Unwissenhe­it. Das muss man sich zugestehen. Auch, dass man mal einen Fehler macht. Das ist ganz wichtig. Aber wir werden da gemeinsam durchkomme­n.

JÖRG ISRINGHAUS FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

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Ein Patient wird auf der Covid-Intensivst­ation im Unikliniku­m Aachen behandelt.

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