Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
„Der Höhepunkt ist wohl überschritten“
Angesichts sinkender Patientenzahlen zeigt sich der neue Präsident der Vereinigung der Intensivmediziner vorsichtig optimistisch.
Herr Professor Marx, Sie sind seit wenigen Tagen neuer Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, kurz: Divi. Zeichnet sich aus Ihrer Sicht auf den Intensivstationen eine Entspannung ab?
MARX Die besten Daten, die wir haben, sind die aus dem Divi-Intensivregister. Danach liegen wir bundesweit am Donnerstag bei 5125 belegten Intensivbetten. In der Spitze waren es etwa 5700, also rund 500 mehr. Es sieht so aus, als hätten wir den Höhepunkt bei den intensivpflichtigen Patienten überschritten. Es scheint momentan so, als ob der befürchtete Zusatz-Peak durch die höhere Besuchsfrequenz an Weihnachten und Silvester ausbleiben würde. Meine Hoffnung ist, dass wir den tatsächlich nicht mehr sehen – es sei denn, die neue Mutation des Virus macht uns einen Strich durch die Rechnung.
Lässt sich das denn so schnell an den belegten Intensivbetten ablesen, weil es ja dauert, bis ein Patient intensivpflichtig wird?
MARX Sie merken ja schon, dass ich sehr vorsichtig bin. In Kürze sehen wir da klarer. Aber Sie haben recht: Es dauert in der Regel zehn Tage, bis die schwerer erkrankten Patienten zu uns kommen. Zumindest einen Weihnachts-Peak sehen wir im In- tensivbereich schon mal nicht.
Wagen Sie die Prognose, dass die Zahlen weiter sinken werden?
MARX Wenn das jetzt so weitergeht, deutet das darauf hin, dass der Lockdown eine gewisse Effizienz zeigt. Ich glaube daher, dass der Zeitpunkt des neuerlichen Treffens der Ministerpräsidenten am 25. Januar klug gewählt ist. Dann kann man tatsächlich gut beurteilen, was die richtigen Maßnahmen sind. Wichtig ist es zudem, dass wir in Deutschland mehr sequenzieren, um frühzeitig zu erkennen, ob, wo und in welchem Umfang die Virus-Mutante B.1.1.7 vorhanden ist.
Bereitet Ihnen die Situation in Großbritannien Sorgen?
MARX Allerdings. Umso wichtiger ist es, dass wir daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Also frühzeitig sequenzieren und gegensteuern.
Waren die bisherigen Maßnahmen aus Ihrer Sicht ausreichend?
MARX Es ist immer sehr schwer zu sagen, was welche Effekte erzielt. Am Ende des Tages geht es darum, Kontakte zu reduzieren. Wenn sich die Zahlen aber so fortsetzen, ist das ein Indiz dafür, dass sich viele Menschen diszipliniert verhalten haben. Das müssen wir noch ein paar Wochen durchhalten. Das und die Impfung
sind dann der Weg aus der Pan- demie heraus. Wenn alles gut läuft, können wir vielleicht im Verlauf des dritten Quartals langsam wieder zu einer neuen Normalität zurückkehren. Dazu brauchen wir aber eine erfolgreiche Impfung.
Das Durchhalten fällt vielen Menschen im Land zunehmend schwerer.
MARX Die vor uns liegenden Monate sind eine besonders schwierige Zeit – auch was den Zusammenhalt betrifft. Es wird immer mehr Menschen geben, die geimpft sind, und viele, die es eben nicht sind. Wir müssen da jedoch gemeinsam durch, müssen alle an den Hygieneregeln AHA plus L festhalten. Es ist wichtig, dass wir zusammenhalten. Aber es ist Licht am Horizont, und ich hoffe, dass dies wieder mehr Menschen Hoffnung und Motivation gibt durchzuhalten.
Zurück zu den Intensivstationen: Es existieren zwar Notfall-Kapazitäten, was die Zahl der Betten angeht, aber es gibt zu wenig Personal. Gibt es Strategien, um das zu ändern?
MARX Hierzu kurz eine Erklärung: Die Notfallbetten im Intensivregister sollen nur gemeldet werden, wenn auch tatsächlich Personal vorhanden ist. Die existieren also tatsächlich. Aber – und das ist ein großes Aber – die Notfallkapazitäten können in jedem Krankenhaus nur abgerufen werden, wenn das komplette Haus keinerlei geplante Operationen mehr durchführt und nur noch Notfälle behandelt. Dann lässt sich Personal gut umsetzen. Es gibt aber auch andere Lösungen: Wir haben in Aachen ein Fünf-TagesIntensivprogramm für Medizin-Studierende entwickelt, die dabei ein Training durchlaufen, das bundesweit Schule machen soll. Viele von ihnen helfen uns jetzt auf den Stationen. Natürlich sind das keine ausgebildeten Intensivkräfte. Wir haben aber auch Personal, das bei der ersten Welle im Akutbereich mitgearbeitet hat, nachgeschult.
Das sind die kurzfristigen Maßnahmen. Wie wird denn langfristig versucht, Personal für Intensivpflege zu interessieren?
MARX Ich hoffe, dass es uns gelingt, einen Schub mitzunehmen. Viele Menschen wissen jetzt, warum Intensivmedizin so wichtig ist. Ich hoffe auch, dass wir vermitteln können, dass es zwar eine anstrengende, aber befriedigende und sinnstiftende Tätigkeit ist.
Hat sich bei der Behandlung der Covid-19-Kranken etwas getan? Bei den Medikamenten wurde bisher kein Durchbruch erzielt.
MARX Das stimmt. Die Hoffnung ist aber schon, dass wir möglichst spezifische Therapien entwickeln, um erkrankten Patienten künftig noch besser helfen zu können. Denn Corona wird ja nicht verschwinden, sondern wir werden weiter Covid-19-Erkrankte haben, nur eben in wesentlich geringerer Zahl. Von daher haben wir weiter einen hohen Forschungsbedarf.
Wie wird die Pandemie die Intensivmedizin langfristig beeinflussen?
MARX Mittlerweile hat fast jeder eine Vorstellung davon, was Intensivmedizin ausmacht. Das war vor Corona nicht so. Vorher wurde es eher mit Tod und Technik verbunden und nicht damit, zurück ins Leben gebracht zu werden. Was ich mir noch erhoffe, ist ein Schub in Richtung Digitalisierung. In der Intensivmedizin haben wir viele Daten zur Verfügung, etwa 1000 pro Patient pro Stunde. Wenn das in Künstliche Intelligenz einfließt, kann man bessere, frühere Diagnosen und individuelle Therapien entwickeln. Wir haben etwa in Aachen mit KI-Experten einen Algorithmus entwickelt und das in einer US-Datenbank getestet. Wir konnten die Diagnose der Blutvergiftung damit um mehr als zwölf Stunden nach vorne ziehen. Wenn es gelingt, das aufs klinische Umfeld zu übertragen, kann das Abertausende Leben retten.
Zum Schluss Ihre persönliche Prognose: Wann wird es besser?
MARX Spannend wird es jetzt noch mit der Virusmutation B.1.1.7 und der Impfbereitschaft. Wenn alles gut läuft, halte ich das dritte Quartal durchaus für realistisch, was eine Entspannung angeht. Doch eine Pandemie ist eine Zeit der Ungewissheit und der Unwissenheit. Das muss man sich zugestehen. Auch, dass man mal einen Fehler macht. Das ist ganz wichtig. Aber wir werden da gemeinsam durchkommen.
JÖRG ISRINGHAUS FÜHRTE DAS GESPRÄCH.