Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Der Großherzog von Baden bringt ein Hoch „auf seine Majestät Kaiser Wilhelm“aus, und dieser macht gute Miene zum bösen Spiel

- VON MARTIN BEWERUNGE

Die Gewalt derer, die sich am 29. August 2020 vor dem Reichstags­gebäude Bahn brach, wo Tausende gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregi­erung demonstrie­rten, mag nicht so brutal gewesen sein wie die derjenigen, die am 6. Januar 2021 das US-Kapitol in Washington stürmten. Während in Berlin den radikalen Gegnern der Demokratie – schockiere­nd genug – bloß ein Zehn-Minuten-Triumph auf den Stufen gelang, die in den Bundestag hineinführ­en, gab es in Washington Tote und Verletzte. Doch verbindet die Wütenden dies- und jenseits des Atlantiks dieselbe Rückwärtsg­ewandtheit. Das verraten auch ihre Flaggen aus längst vergangene­n Tagen: Hier das Schwarz-Weiß-Rot des Deutschen Reichs, dort das mit Sternen bedeckte Schrägkreu­z der Konföderie­rten Staaten von Amerika.

Es sind Erkennungs­zeichen von Reaktionär­en, und sie verklären Epochen zu Mythen, über die die Geschichte hinweggega­ngen ist. Die Legendenbi­ldung vom verlorenen Paradies, in dem Sklavenhal­ter als Gentlemen erscheinen, Hochverrät­er als Helden, fällt bei den rassistisc­hen Anhängern der Südstaaten besonders krass aus. Doch auch in der Bundesrepu­blik trauern Leute alten, mäßig kontrollie­rten Autoritäte­n nach, die, wenn es ihnen opportun erschien, hart durchgreif­en konnten.

Deshalb kramen sie gerade jetzt wieder die Flagge eines Reichs hervor, das diese Art der Machtausüb­ung in ihren Augen auf ideale Weise verkörpert­e – gestützt auf Nationalis­mus, Militarism­us, Aristokrat­ie: das Deutsche Kaiserreic­h. Freilich machen seine Merkmale sicher auch, wenngleich keineswegs nur dessen ungewöhnli­che Erfolgssto­ry aus, die vor genau 150 Jahren beginnt. Aber weil diese Geschichte vom Drang nach Macht und Erlösung getrieben ist, führt sie in den Größenwahn und endet keine 50 Jahre später mit einem tiefen Fall.

„Franzosen und Russen gehört das Land / Das Meer gehört den Briten / Wir aber besitzen im Luftreich des Traums / Die Herrschaft unbestritt­en“. Schon 1844 legt Heinrich Heine mit diesen spöttische­n Versen aus seinem Gedicht „Deutschlan­d – ein Wintermärc­hen“den Finger in die Wunde. Sprache und Kultur verbinden die Deutschen zu jener Zeit, einen Nationalst­aat jedoch haben sie nicht. Das ändert sich erst 1871. Am 18. Januar wird im prächtigen Spiegelsaa­l des Versailler Schlosses der preußische König Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser proklamier­t.

In Versailles befindet sich damals das Hauptquart­ier der deutschen Armeen, die im Begriff sind, mit der Einnahme von Paris die militärisc­he Niederlage Frankreich­s zu besiegeln. Vergeblich hat Napoleon III. versucht, den fortschrei­tenden Einigungsp­rozess 7 4 5 1 1

der Nachbarlän­der im Osten, die zu einem immer größeren Machtfakto­r werden, durch einen Krieg zu verhindern. Nun aber ist der Weg frei für einen Beitritt auch der süddeutsch­en Staaten zum Norddeutsc­hen Bund, in dem Preußen 1866/67 bereits alle deutschen Staaten nördlich der Mainlinie unter seiner Führung versammelt hat.

Architekt dieses komplizier­ten Gebildes ist der preußische Staatsmann Otto von Bismarck. Der hatte zuvor in zwei Einigungsk­riegen gegen Dänemark und Österreich in der deutschen Machtfrage zwischen den protestant­ischen Hohenzolle­rn in Berlin und den katholisch­en Habsburger­n in Wien Klarheit geschaffen: An der Wiege des deutschen Nationalst­aates steht auch der Ausschluss der deutschspr­achigen Gebiete Österreich­s.

Eine „deutsche Revolution“, die Europa mehr verändere als die Französisc­he, nennt der damalige britische Außenminis­ter Benjamin Disraeli ahnungsvol­l das, was da aus dem Windschatt­en der Geschichte heraustrit­t. Eine Revolution, die – typisch deutsch – von oben stattfinde­t. Und selbst dort oben knirscht es zunächst gewaltig, denn 2 2 3 3 4 5 6

Die Proklamier­ung des Deutschen Kaiserreic­hes,

der preußische König fremdelt mit dem „Scheinkais­ertum“, wie er es nennt, zudem mit dem ihm angetragen­en Titel: „Kaiser von Deutschlan­d“, nicht aber, wie von Bismarck vorgesehen, „Deutscher Kaiser“will der 74-jährige Monarch genannt werden. „Ich war zuletzt so moros, dass ich drauf und dran war zurückzutr­eten“, berichtet er seiner Frau Augusta später.

Nun aber steht Wilhelm I. zusammen mit Bismarck, zahlreiche­n deutschen Bundesfürs­ten, Hunderten Soldaten und Offizieren im Schloss des Sonnenköni­gs Ludwig XIV., der in ausschweif­enden Deckengemä­lden als Eroberer deutscher Städte und Länder verherrlic­ht wird. Der Triumph, die Dominanz des Militärisc­hen an diesem 18. Januar 1871 ist überwältig­end. Von gewählten Volksvertr­etern fehlt beim Gründungak­t der neuen europäisch­en Großmacht indes jede Spur. Bismarck verliest die Kaiserprok­lamation, woraufhin dem Großherzog von Baden, 7 8

Friedrich I., ein kleines diplomatis­ches Meisterwer­k gelingt: Er bringt ein schlichtes Hoch auf „seine Majestät Kaiser Wilhelm“aus, und dieser macht gute Miene zum bösen Spiel.

Mit der Etablierun­g des neuen Reichs erfüllt sich der Traum des deutschen Liberalism­us nur teilweise. Die nationale Einheit ist erreicht, das Ziel einer parlamenta­risch verantwort­lichen Regierung hingegen nicht. Erst am 28. Oktober 1918 sollte Deutschlan­d zu einer parlamenta­rischen Monarchie werden, die der Sozialdemo­krat Philipp Scheideman­n nur zwölf Tage später durch die Republik ablöst, die er von einem Fenster des Reichstags­gebäudes ausruft.

Zunächst aber entwickelt sich das Kaiserreic­h ab 1873 in wirtschaft­licher, technologi­scher, wissenscha­ftlicher und sozialstaa­tlicher Hinsicht wie im Zeitraffer zu einem der modernsten Länder der Welt. Bis 1914 versechsfa­cht es seine industriel­le Produktion, vervierfac­ht die Exporte,

überflügel­t das in Europa bis dahin führende Großbritan­nien. Dort war zur Kennzeichn­ung von Waren vermeintli­ch minderer Qualität die Herkunftsb­ezeichnung „Made in Germany“eingeführt worden. Jetzt ist sie ein Gütesiegel.

Als Ausgleich für das Verbot der Sozialdemo­kratie führt Reichskanz­ler Bismarck ein modernes Sozialvers­icherungss­ystem ein: 1883 die gesetzlich­e Krankenver­sicherung, 1884 die Unfallvers­icherung, 1889 die Rentenvers­icherung. Die durchschni­ttliche Lebenserwa­rtung steigt von 37 auf 47 Jahre. In Deutschlan­d entsteht Europas größte Frauenbewe­gung. Schon bei der ersten Nobelpreis­verleihung 1901 ist ein Deutscher unter den Ausgezeich­neten: Wilhelm Conrad Röntgen. Viele folgen.

Doch die Verbindung von Monarchie und Demokratie, von Tradition und Moderne bleibt konfliktre­ich. Sowohl die antikathol­ischen Kulturkamp­fgesetze als auch die Sozialiste­ngesetze gegen die organisier­ten Arbeiter in den 1870er-Jahren widersprec­hen rechtsstaa­tlichen Grundsätze­n. Es fehlt an Parteien, die bereit sind, grundsätzl­iche Interessen­skollision­en abzufedern und über die Blockbildu­ng hinaus zu dauerhafte­n Koalitione­n zusammenzu­finden. Noch geht es ihnen im Rahmen ihrer Möglichkei­ten bloß um eine Kontrolle der Regierung, nicht aber um die Übernahme der Macht. Um Mehrheiten zu bekommen, löst Reichskanz­ler Bismarck zur Not den Reichstag kurzerhand auf und ordnet Neuwahlen an.

Nahezu zwingend als Voraussetz­ung für eine erfolgreic­he Karriere im Zivilleben bleibt für den ambitionie­rten deutschen Mann im Reich der Pickelhaub­en der vorherige Dienst im Militär, der als Nachweis seiner „vaterländi­schen Gesinnung“gilt. Überhaupt entwickelt sich der Begriff „national“mehr und mehr zu einem Kampfbegri­ff der politische­n Rechten gegen die Liberalen, zunehmend aber auch gegen die Juden. Der Antisemiti­smus erlebt im Deutschen Reich einen bestürzend­en Aufschwung. Der Rassismus ebenfalls. In Deutsch-Südwestafr­ika begehen die deutschen Kolonialhe­rren mit der brutalen Auslöschun­g der Herero und Nama den ersten in der Geschichts­schreibung anerkannte­n Völkermord des 20. Jahrhunder­ts.

Dabei wolle Deutschlan­d doch „niemanden in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne“, erklärt der damalige deutsche Außenminis­ter Bernhard von Bülow am 6. Dezember 1897. Der Sonne will das Reich nicht zuletzt durch eine gigantisch­e Aufrüstung näherkomme­n, vor allem zu Wasser gegen die führende Seestreitm­acht Großbritan­nien. Aber dann kommt dieses Reich in seiner Hybris wie Ikarus in der griechisch­en Sage der Sonne zu nahe, verbrennt in den sinnlosen Schlachten des von ihm mit angezettel­ten Ersten Weltkriegs und stürzt ins Nichts.

Dennoch: Das deutsche Kaiserreic­h war die Voraussetz­ung für das Land, in dem wir heute leben. Es bestand nicht nur aus schwadroni­erenden Chauvinist­en und Imperialis­ten. Sein Weg führte allen Widerständ­en zum Trotz in die Demokratie. Der vielgeschm­ähte Reichstag gewann an politische­m Gewicht. Die Wahlbeteil­igung stieg. Spätestens um 1900 setzte eine fundamenta­le Politisier­ung breiter Gesellscha­ftsschicht­en ein.

In den Wirren der darauf folgenden Weimarer Republik aber waren es deren reaktionär­e Feinde, die die schwarz-weiß-rote Flagge des untergegan­genen Reichs hochhielte­n. Sie sehnten sich damals wie heute zurück nach einer Zeit, die zum Mythos verklärt wurde. Die Feinde der Demokratie verabscheu­ten damals wie heute die Zumutungen der Freiheit, die mit dem Parlamenta­rismus einhergehe­n. Die von der Weimarer Nationalve­rsammlung favorisier­ten Farben Schwarz, Rot und Gold hielten sich seinerzeit nicht sehr lange. Dann wehten Hakenkreuz­e im Wind.

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