Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Wenn der Wandel gelingt
Viele Schulen waren in der Pandemie aufgeschmissen. Ein Gymnasium in Gütersloh nicht. Wie digitale Bildung funktionieren kann.
Herr Fugmann, die Corona-Krise stellt das Bildungssystem vielerorts vor große Probleme. Wie war das an Ihrer Schule?
MARTIN FUGMANN Wir waren schulisch auf die Pandemie sehr gut vorbereitet. Der Online-Unterricht hat bei uns von Tag eins an 100 Prozent funktioniert. Die Schülerinnen und Schüler konnten auch zuhause weiter nach Stundenplan unterrichtet werden. Es gab ein schulisches Gesamtkonzept für digital gestützten Unterricht.
Was haben Sie anders oder besser gemacht als andere Schulen?
FUGMANN Am ESG haben wir schon im Jahr 1999 angefangen zu digitalisieren. Als ich 2016 an die Schule gekommen bin, haben wir eine Endgerät-Ausstattung für jedes Kind vorgenommen. Flankierend zur technischen Ausstattung haben wir eine E-Learning-Plattform eingeführt. Bevor ich ans ESG kam, war ich sechs Jahre lang Schulleiter der German International School im Silicon Valley in den USA und habe von dort „NerdL“mitgebracht. Damit arbeiten wir seitdem konsequent.
Was ist NerdL?
FUGMANN Es ist ein Lern-Management-System. Neben der individuellen Ausstattung der Schüler mit digitalen Endgeräten braucht es vor allem Plattformen, die zeitgemäße Unterrichtsmethoden fördern und abbilden. Das ist essenziell. Denn wenn wir den analogen Unterricht einfach „stumpf“ins Digitale übertragen, funktioniert das nicht. Man kann es vielleicht mit dem Online-Handel vergleichen: Digitale Bildung ohne eine funktionierende Plattform ist wie Online-Shopping per Telefax.
Wie sieht die Nutzung von NerdL im Alltag aus?
FUGMANN Wir haben die Lernplattform auf den Stundenplan aufgebaut, nehmen wir also als Beispiel Klasse 5c an unserer Schule. Die haben montagmorgens in der ersten Stunde Mathe. Zum Schulbeginn loggen sie sich in ihren eigenen Account auf NerdL ein und klicken in ihrem digitalen Stundenplan auf die Mathestunde. Dann geht ein
Fenster auf. Dort werden Aufgaben gestellt, es wird aber auch unter anderem zu virtuellen Kooperationsräumen verlinkt, sodass die Schüler auch Gruppenarbeiten machen können. Es gibt außerdem eine synchrone Chatfunktion, die die Schüler verwenden können, um mit der Lehrkraft zu kommunizieren. Und Feedback-Möglichkeiten. Die Lehrkraft kann auch immer überprüfen, woran die Kinder gerade arbeiten und wie weit sie sind.
Was ist mit den Schülerinnen und Schülern, die beispielsweise kein gutes Internet zu Hause haben?
FUGMANN Für die Kinder, die von diesen Problemen betroffen sind, haben wir während der Lockdownphasen 2020 die Möglichkeit angeboten, vor Ort in der Schule Lernräume aufzusuchen, die von Lehrkräften beaufsichtigt werden. Um das aber pandemisch sinnvoll zu gestalten, durfte das bei uns die Zahl 100 nicht überschreiten. Dafür haben wir ein Online-Buchungssystem entwickelt, über das die Kinder Lernräume buchen konnten.
Reichten diese Kapazitäten aus?
FUGMANN Ja, es waren nicht viele Kinder, die das Angebot in Anspruch genommen haben. Das hängt aber, das muss man auch erwähnen, viel mit der sozialen Zusammensetzung unserer Schulgemeinde zusammen. Eltern haben uns aber auch zurückgespiegelt, dass Kinder über die Struktur der Lernplattform wirklich beschäftigt sind.
Die Digitalisierung der Bildung hat also vor allem zum Ziel, den Schülerinnen und Schülern selbstständiges Arbeiten zu ermöglichen?
FUGMANN Ja, aber nicht ausschließlich. Digitales Lernen bietet unheimlich viele Möglichkeiten. In Schulleistungsstudien ist immer die Rede davon, dass es uns nicht hinreichend gelingt, die Schere zwischen den bildungsfernen und den bildungsnahen Elternhäusern zu schließen, dass es uns nicht gelingt, Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund angemessen und zufriedenstellend Hilfestellung zu leisten, das immer noch ungelöste Handlungsfeld der Inklusion kommt hinzu.
Inwiefern bieten E-Learning-Plattformen da eine Lösung?
FUGMANN Der Gedanke, dass Schülerinnen und Schülern mit völlig unterschiedlichen kognitiven, sozialen, kulturellen und emotionalen Voraussetzungen durch ein einheitliches Bildungssystem geschleust werden können, ist nicht länger tragbar. Das funktioniert nicht. Die Schüler müssen eine personalisierte Auswahl an Lernangeboten, Lerninhalten und Lernwegen bekommen und eine Auswahl an Inhalten und Bildungswegen, die ihre Bedürfnisse und ihre Voraussetzungen berücksichtigt. Und personalisiertes
Lernen ist nur digital gestützt möglich.
Wie können wir uns die Schule der Zukunft vorstellen?
FUGMANN Es wird immer einen Verbund von analogen und digitalen Zugängen geben. In diesen Blended-Learning-Formaten werden wir in Zukunft auch zunehmend interdisziplinär, das heißt, überfachlich denken. Ich glaube deshalb nicht, dass Schulbücher in gedruckter Form einmal der Vergangenheit angehören werden. Sondern es wird viel mehr so sein, dass Schüler synchron, asynchron, analog und digital arbeiten lernen.
Gibt Corona den entscheidenden Anstoß für ein Umdenken?
FUGMANN Ja, das glaube ich schon. Diese Phase jetzt ist entscheidend. Als nach dem Lockdown die Devise kam: Klausuren, Präsenzunterricht, Abitur – alles bleibt, wie es war, hat sich erheblich Widerstand aufgebaut. Deswegen denke ich, dass jetzt die Phase beginnt, in der sich Politikerinnen und Politiker, wie beispielsweise Frau Gebauer, korrigieren müssen. Es ist zwar noch ein langer Weg. Aber ich bin überzeugt davon, dass wir ihn gehen werden. Wir sind eine Hightech-Nation, wir schaffen es doch auch, E-Mobilität auszubauen, warum sollen wir nicht unser Bildungswesen in das Zeitalter der Digitalität führen können.
ANNIKA LAMM FÜHRTE DAS INTERVIEW.