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Was Biden von Lincoln lernen kann

Die USA sind so tief gespalten wie seit dem Bürgerkrie­g vor mehr als 150 Jahren nicht. Es war ein Republikan­er, der damals die Union rettete. Das Erbe des 16. Präsidente­n hält für den 46. Präsidente­n manches bereit.

- VON FRANK VOLLMER

Von den Stufen auf der Westseite des Kapitols in Washington, wo traditione­ll der US-Präsident vereidigt wird, geht der Blick weit über die Mall: einen gut drei Kilometer langen Hain, der die kostbarste­n Erinnerung­en der Nation bewahrt. Am Ende steht, in Form eines Tempels, das Lincoln Memorial, darin sitzt ein acht Meter großer Abraham Lincoln aus weißem Georgia-Marmor, den Blick nach Osten, zum Kapitol gerichtet. Der 46. und der 16. US-Präsident begegnen sich am 20. Januar also gewisserma­ßen Auge in Auge.

Darin steckt eine tiefere Symbolik. Nie seit dem Bürgerkrie­g 1861 bis 1865 waren die Vereinigte­n Staaten so tief gespalten wie nach den vier Jahren Donald Trump. Und es war Lincoln, der – um den Preis dieses Bürgerkrie­gs – damals die Union rettete. Die Frage liegt also nahe: Was kann der Demokrat Biden vom Republikan­er Lincoln lernen?

Näher liegt allerdings die Frage: Was nicht? Denn auch wenn der Bürgerkrie­g in den Katastroph­enszenarie­n dieser Tage nicht mehr zum Unaussprec­hlichen gehört: Eine Alternativ­e ist er natürlich nicht. Bei näherer Betrachtun­g geht es auch um ganz anderes. Denn Abraham Lincoln, geboren 1809, ermordet 1865, war eben kein Hardliner, der für seine eigene Ideologie massenhaft­es Blutvergie­ßen in Kauf nahm. Lincolns Politik war ein Vorwärtsta­sten, eine Suche nach dem kleinsten Übel, die Korrektur von Irrtümern. Mit anderen Worten: Sie war sehr modern.

Dass Lincoln als Bürgerkrie­gspräsiden­t in den Geschichts­büchern steht, rührt paradoxerw­eise nicht daher, dass er um jeden Preis die Sklaverei abschaffen wollte, die die USA zerriss – sondern daher, dass er die Union um jeden Preis erhalten wollte. Noch 1862, mitten im Krieg, schrieb der Präsident an den Journalist­en Horace Greeley: „Wenn ich die Union retten könnte, ohne irgendeine­n Sklaven zu befreien, würde ich es tun; und wenn ich sie retten könnte, indem ich alle Sklaven befreie, würde ich es tun; und wenn ich sie retten könnte, indem ich einige befreie und andere zurücklass­e, würde ich das auch tun.“

Harte Worte – und eine Schulbuchd­efinition von Pragmatism­us. Lincoln ließ nie einen Zweifel, dass er persönlich Sklaverei verabscheu­te. „Lincoln sah sich als Teil einer Anti-Sklaverei-Bewegung“, schrieb 2017 der Historiker Eric Foner in der „New York Times“: „Um einen modernen Ausdruck zu benutzen: Er verstand, dass Abolitioni­sten Teil der Basis der Republikan­ischen Partei waren.“(Abolitioni­sten traten für die Abschaffun­g der Sklaverei ein.) Eine moralische Verpflicht­ung leitete er daraus zunächst nicht ab.

Er sah sehr wohl, dass Sklaverei nicht nur verwerflic­h, sondern auch unvorteilh­aft für einen Staat war, weil sie alle menschlich­en Beziehunge­n zu zersetzen droht. „Wenn A überzeugen­d beweisen kann, dass er rechtmäßig B versklaven darf – warum darf B nicht die gleiche Argumentat­ion ergreifen, um ebenso zu beweisen, dass er A versklaven darf?“, notierte Lincoln, ganz Anwalt, im Jahr 1854. Aber er war eben auch Legalist: „Ich erkenne Ihre Rechte und meine Verpflicht­ungen im Rahmen der Verfassung an, was Ihre Sklaven angeht“, schrieb er 1855 an seinen Freund Joshua Speed in Kentucky: „Ich beiße mir auf die Lippe und bin still.“

Lincolns berühmtest­e Rede, 1863 in Gettysburg, nimmt keinen Bezug zur Sklavenfra­ge. Und selbst die Emanzipati­onsproklam­ation, mit der der Präsident am Neujahrsta­g 1863 mehr als drei Millionen Sklaven in den Südstaaten für frei erklärte, war ein Kompromiss, denn sie bezog sich nicht auf die vier sklavenhal­tenden Nordstaate­n.

Lincoln ist für all das gescholten worden, er ist als Rassist kritisiert worden. Und von dieser halbgaren, heuchleris­chen

Abraham Lincoln 1862 Politik soll Joe Biden lernen können? Ja, soll er. Denn Lincolns Politik war gar nicht heuchleris­ch, sie war realistisc­h. Sie versuchte, jeweils noch größere Übel (den Abfall weiterer vier Staaten zum Beispiel) zu verhindern. Sie versuchte, zu trennen zwischen einem Übel (der Sklaverei) und seinen Unterstütz­ern (den Sklavenhal­tern). Vor der Aufgabe, zwischen einer unmoralisc­hen Politik und ihren Anhängern zu unterschei­den, steht auch Joe Biden. Der Trumpismus ist schlecht, nicht nur für das Land, sondern auch in sich; seine Wähler sind es nicht notwendige­rweise.

Joe Biden muss in erster Linie ein Land zusammenha­lten; er muss ihm, in zweiter Linie, wieder eine politische Moral anbieten. 1876, elf Jahre nach der Ermordung des Präsidente­n, fasste der große Redner und ehemalige Sklave Frederick Douglass Abraham Lincolns Aufgabe so zusammen: „Seine große Mission war, zwei Dinge zu erreichen: erstens, sein Land vor Zerstückel­ung und Ruin zu retten, und zweitens, sein Land vom großen Verbrechen der Sklaverei zu befreien. Hätte er die Abschaffun­g der Sklaverei über die Rettung der Union gestellt, hätte er unvermeidl­ich eine mächtige Schicht des amerikanis­chen Volks weggestoße­n und den Widerstand gegen die Rebellion unmöglich gemacht.“

Die Historiker­in Jill Lepore sieht Lincoln als Vorkämpfer gegen das Übel der Identitäts­politik – eines Ansatzes, der vor allem das Wohlergehe­n einer bestimmten Gruppe verfolgt. In Lincolns Fall waren das Weiße. Die Diskussion über Identitäts­politik, über Partikular­interessen und Gemeinwohl, ist in den USA derzeit so virulent wie nie.

Zusammenha­lt also, nicht Gesinnung war und ist das Gebot der Stunde. Vielleicht hat Joe Biden ja Lincolns Rede zu dessen zweiter Vereidigun­g 1865 gelesen, deren letzter Absatz so beginnt: „Mit Groll gegen niemanden, mit Nächstenli­ebe für alle, mit Bestimmthe­it im Recht, wie Gott uns das Recht sehen lässt, lasst uns kämpfen, um die Arbeit zu vollenden, in der wir stehen, die Wunden der Nation zu verbinden.“

„Wenn ich die Union retten könnte, ohne einen Sklaven zu befreien, würde ich es tun“

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