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Der letzte Ausweg

Seit 20 Jahren gibt es in NRW Babyklappe­n. Sie sollen für verzweifel­te Mütter eine Möglichkei­t sein, ihr Neugeboren­es abzugeben. Doch das ist umstritten.

- VON CLAUDIA HAUSER FOTO: CHRISTOPH REICHWEIN

DUISBURG Das Bettchen in der Duisburger Babyklappe ist immer auf 37 Grad vorgewärmt. Wenn eine Mutter ihr Kind hineinlegt und die Klappe schließt, dauert es eine halbe Minute, dann kann sie von außen nicht mehr geöffnet werden. So soll verhindert werden, dass jemand, der die Frau möglicherw­eise beobachtet hat, an das Kind gelangen kann. Nach zwei Minuten ertönt ein Signal auf der Neugeboren­en-Station und an der Pforte der St.-Johannes-Klinik – und das Kind wird aus der Babyklappe geholt und versorgt. Der Alarm wird zeitverzög­ert ausgelöst, damit die Mutter unerkannt bleiben kann. Im vergangene­n Jahr schrillte der Alarm zweimal. In beiden Fällen lag ein Neugeboren­es im Bett.

Die Duisburger Babyklappe ist eine der ersten in Nordrhein-Westfalen. Seit dem Herbst 2001 wurden 23 Kinder dort abgegeben. „Wenn eine Frau ihre Schwangers­chaft verdrängt, und plötzlich ist das Kind da, dann hat sie eigentlich nur zwei Möglichkei­ten, es loszuwerde­n, wenn sie es nicht behalten will“, sagt Peter Seiffert, Chefarzt der Klinik für Kinderund Jugendmedi­zin am St. Johannes. „Aber wie lebt sie weiter, wenn sie das Kind tötet und ihr später klar wird, was sie getan hat?“Seiffert ist davon überzeugt, dass eine Babyklappe immer zwei Leben rettet – das des Kindes und das der Mutter.

Seit 20 Jahren gibt es in Nordrhein-Westfalen Babyklappe­n oder auch Babyfenste­r. Die erste Babyklappe Deutschlan­ds wurde bereits ein Jahr vorher, im Jahr 2000, in Hamburg eröffnet. Babyklappe­n sollen Frauen in Not die Möglichkei­t bieten, ihr Kind anonym abzugeben. „Rechtlich bewegen sich Babyklappe­n

in einer Grauzone, da sie das Grundrecht auf Kenntnis der eigenen Abstammung nicht sichern“, sagt eine Sprecherin des Bundesfami­lienminist­eriums. Ein Kind hat außerdem das Recht auf Unterhalt und darauf zu wissen, wer sein leiblicher Vater ist – beides bleibt ihm verwehrt, wenn es anonym abgegeben wurde und sich die Mutter nie mehr meldet. Weil der Betrieb der Babyklappe­n rechtlich nicht geregelt ist, wird die Zahl der abgegebene­n Kinder statistisc­h nicht erfasst. Studien haben aber gezeigt, dass in Deutschlan­d etwa 100 Kinder pro Jahr in Babyklappe­n abgegeben werden.

In NRW gibt es etwa 25 Babyklappe­n. „Das Schönste ist, wenn die Mütter die Kinder zurücknehm­en“, sagt Peter Seiffert. Viermal ist das in Duisburg bisher passiert. Auf dem Wärmebett liegt ein Brief an die Mutter, in dem in zehn Sprachen genau beschriebe­n ist, was sie tun muss, wenn sie es sich doch noch anders überlegt. Wenn sich eine Frau dafür entscheide­t, ihr Kind zu sich zu nehmen, kann sie sich mit einem Code, der dem Schreiben beiliegt, in der Klinik identifizi­eren. „Die Frauen geben ihre Kinder nicht aus Boshaftigk­eit ab, sondern weil sie keinen anderen Ausweg sehen“, sagt Seiffert. „Dass sie es in eine Babyklappe geben, beweist ja schon, dass sie für ihr Kind etwas Gutes wollen.“

Die Hilfsorgan­isation Terre des Hommes bezweifelt, dass Babyklappe­n helfen, Kindstötun­gen zu verhindern. So sei die Zahl der Kindstötun­gen durch die Installati­on der Klappen nicht zurückgega­ngen, wie eine Sprecherin mitteilt. „Es sind nicht verzweifel­te, potenziell­e Totschläge­rinnen, die das Angebot von Babyklappe­n nutzen, um

Peter Seiffert Chefarzt für Kinder- und Jugendmedi­zin ihre Schwangers­chaft zu anonymisie­ren“, sagt eine Sprecherin. „Es handelt sich vielmehr um Frauen, die ihr Kind ansonsten regulär und mit Hinterlass­ung des Namens zur Adoption gegeben hätten.“Babyklappe­n würden es diesen Frauen ermögliche­n, sich ihrer Verantwort­ung auf einfachste Weise zu entziehen.

Als Gründe nennt die Organisati­on etwa die Vertuschun­g eines Inzests, einen Seitenspru­ng mit Folgen, die Abschiebun­g eines schwerbehi­nderten Kindes oder den Druck von Eltern, Angehörige­n oder des Partners auf eine Frau, die ungewollt schwanger geworden ist. „Für die Kinder bedeutet das: Sie werden nie erfahren, wer ihre leiblichen Eltern sind.“Eine Antwort darauf sei aber von größter Bedeutung. „Das wissen wir aus unserer langjährig­en Adoptionsa­rbeit.“

Auch den Müttern sei nicht unbedingt geholfen. „Erfahrunge­n aus der Praxis zeigen, dass Mütter, die ihre Kinder regulär zur Adoption gegeben haben, oft ein Leben lang unter dieser Entscheidu­ng leiden und auf psychologi­sche Betreuung angewiesen sind“, sagt die Sprecherin. „Wie aber wird eine Mutter, die ihr

Kind in einer Babyklappe anonym abgelegt hat, mit diesem Trauma fertig?“

Anne Rossenbach arbeitet für den Sozialdien­st katholisch­er Frauen (SkF) in Köln, der seit 20 Jahren ein Babyfenste­r, das Moses-Fenster, am Haus Adelheid unterhält. 31 Neugeboren­e wurden dort im Laufe der Zeit abgegeben. „Jedes Kind sollte wissen, woher es kommt“, sagt Rossenbach. „Das Babyfenste­r scheint aber für viele Mütter der letzte Ausweg zu sein.“Sie wünscht sich ein zentrales Melderegis­ter, in dem alle Fälle der anonym abgegebene­n Kinder registrier­t werden. Zudem sollten Fragen geklärt werden wie: „Was geschieht, wenn eine Mutter nach 20 Jahren auftaucht und wissen will, was aus ihrem Kind geworden ist?“

Seit 2014 gibt es eigentlich eine rechtlich sichere Alternativ­e zum Babyfenste­r: die vertraulic­he Geburt. „Sie ermöglicht dem Kind, nach 16 Jahren Kenntnis über seine Abstammung zu erlangen, und bietet für Mutter und Kind die erforderli­che medizinisc­he Betreuung“, sagt die Sprecherin des Bundesfami­lienminist­eriums. „Es gibt aber nach wie vor Frauen, die die vertraulic­he Geburt nicht kennen oder sich nach eingehende­r Beratung bei einer Schwangers­chaftsbera­tungsstell­e trotzdem für eine Babyklappe entscheide­n.“Zum Schutz des Kindes sei das Angebot an Babyklappe­n deshalb weiterhin für verzweifel­te Frauen von Bedeutung.

Anne Rossenbach hat einmal erlebt, dass ein Kind sehen wollte, wo seine Mutter es damals abgegeben hat. „Das Kind kam mit seinen Adoptivelt­ern und wir konnten ihm nur die Babyklappe zeigen und eine Decke, die wir in das Kinderbett legen“, sagt Rossenbach. Wer seine Mutter ist und warum sie es weggegeben hat, wird auch dieses Kind nie erfahren.

„Frauen geben ihre Kinder nicht aus Boshaftigk­eit ab, sondern weil sie keinen Ausweg sehen“

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Die Babyklappe an der St.-Johannes-Klinik in Duisburg.
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