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Können Geimpfte trotzdem andere anstecken?

Die Corona-Impfung erzeugt keine sogenannte sterile Immunität. Doch ist das Risiko einer Übertragun­g offenbar geringer, weil die Menge der Viren in den Atemwegen kleiner wird.

- VON WOLFRAM GOERTZ

DÜSSELDORF Der heilige Gral einer Medizinstu­die ist der sogenannte Endpunkt. Er benennt das Ziel, er ist der Knackpunkt, auf den alle Statistike­n ausgericht­et sind. Natürlich schauen die Forscher auch nach links und rechts. Doch wenn es bei einem neuen Medikament im sogenannte­n primären Endpunkt um die deutliche Senkung des Blutzucker­spiegels geht, wird niemand ein zweites Mal die Jubelfanfa­ren erschallen lassen, wenn es nebenbefun­dlich auch die Harnsäurew­erte senkt.

Bei den Studien für einen Impfstoff gegen das Coronaviru­s lautete der Endpunkt: Kann er die Zahl schwerer Verläufe senken? Diese Frage wurde in den Phase-III-Studien sehr überzeugen­d bejaht. Die Ergebnisse hätten indes noch mehr Power gehabt, wenn man sämtliche Probanden zusätzlich regelmäßig per PCR-Test auf die Frage getestet hätte, ob sie sich trotz der Impfung infizieren konnten. Denn Viren können sich ja durchaus auf Schleimhäu­ten tummeln, ohne in die Zellen einzudring­en und Schaden anzurichte­n. Das nennt man klinische Immunität. Trotzdem wäre es möglich, dass sie an andere weitergege­ben werden – vielleicht in geringerer Menge, aber immerhin.

Wenn Viren durch eine Impfung sozusagen gleich bei ihrem Eintreffen abgefangen und vernichtet werden, ist das den neutralisi­erenden Antikörper­n zu danken. Sie bewirken, vor allem wenn sie in großer Menge aktiviert werden, eine sogenannte sterile Immunität; bei Impfung gegen Kinderkran­kheiten wie Masern, Röteln, Mumps, Windpocken und Kinderlähm­ung wird sie immer erzeugt.

Aber bei der Corona-Impfung ist das nicht ganz klar. In jedem Fall ist schon die klinische Immunität ein Segen. Sie liegt vor, wenn ein Virus zwar noch in Zellen eines Organismus eindringen kann, dort in begrenztem Maße auch noch vermehrt wird, es aber keine schwerwieg­enden Krankheits­symptome mehr hervorruft. Beispiele für Impfungen, die zwar vor einer Erkrankung schützen, nicht aber vor einer

Infektion, sind jene gegen HPV und Meningokok­ken B.

Der Düsseldorf­er Virologie-Professor Jörg Timm vom dortigen Universitä­tsklinikum kennt die Datenlage: „In den Zulassungs­studien für die Impfstoffe von Biontech und Moderna wurden Infektione­n in der Gruppe der Geimpften deutlich seltener beobachtet als in der mit Placebo geimpften Kontrollgr­uppe. Aus den verfügbare­n Daten lässt sich aber noch nicht sicher ableiten, ob der Impfstoff tatsächlic­h auch asymptomat­ische Infektione­n verhindert – also eine sogenannte sterile Immunität verleiht – oder ob vor allem symptomati­sche und schwere Verläufe verhindert werden, die üblicherwe­ise der Anlass für eine Testung sind.“Auch für Klaus Cichutek, Chef des Paul-Ehrlich-Instituts, hat die Sache zwei Seiten: „Es gibt aus den Tierversuc­hen keinen guten Hinweis darauf, dass wir wirklich eine sterile Immunität erreichen können.“Trotzdem glaubt er, „dass bei einer Verminderu­ng der schweren Verläufe doch auch zumindest eine Reduktion der Viruslast in den oberen Atemwegen passiert“.

Und was sagt der Tierversuc­h? Nun, aus den Untersuchu­ngen an geimpften Affen ist bekannt, dass sie zwar nicht erkranken, wenn sie mit Sars-CoV-2 infiziert werden, aber doch aktive Viren in ihren Nasen haben, die sie auch verbreiten können. Anderersei­ts hatte man ihnen eine solch hohe Menge an Viren in die Nase gesprüht, die eine normale menschlich­e Infektion in Sachen Viruslast deutlich übertrifft. Gleichwohl sind die Ergebnisse der Tierversuc­he ein Hinweis darauf, dass Geimpfte vorerst als potenziell infektiös gelten und deshalb nicht von einer Maskenpfli­cht entbunden werden können.

Ebenfalls skeptisch ist bei der Immunität, noch dazu der sterilen, der Vorsitzend­e der Arzneimitt­elkommissi­on der deutschen Ärzteschaf­t, Wolf-Dieter Ludwig: „Wir wissen relativ sicher, dass eine sogenannte sterile Immunität im Moment wahrschein­lich gar nicht erreichbar ist.“

Timm ist wie Cichutek optimistis­cher bei der Frage, ob von geimpften Menschen noch ein Infektions­risiko ausgehen kann: „Selbst wenn möglicherw­eise sterile Immunität fehlen sollte, gehe ich davon aus, dass bei einer Infektion nach Impfung die Virusmenge­n in den Atemwegen deutlich geringer sind. Daher wird in jedem Fall die Impfung einen positiven Effekt auf die Verbreitun­g von Sars-CoV-2 haben, solange die Menschen kein vermehrtes Risikoverh­alten zeigen.“

Es liegt auf der Hand, dass es für die Covid-19-Impfungen noch keine Langzeitst­udien gibt. Bisherige Untersuchu­ngen zeigen jedoch, dass die Impfstoffe eine bessere Antikörper-Antwort hervorrufe­n als eine natürliche Infektion, die ja nicht selten im Tod endet oder sogenannte Long-Covid-Symptome hervorruft. Von einer lebenslang­en Schutzwirk­ung kann bei der Impfung zwar nicht ausgegange­n werden. Doch selbst wenn der Schutz nur zwei Jahre anhält, kann nachgeimpf­t werden.

Mancher fragt sich trotzdem, ob eine natürliche Immunität nach durchgemac­hter Infektion nicht der sicherere Schutz sein könne. Seine Argumentat­ion: Die Reaktion des

Bei Tierversuc­hen wurde Affen mit einem Nasenspray eine sehr hohe Dosis verabreich­t

Immunsyste­ms auf das komplette Virus müsste doch zwangsläuf­ig stärker und verlässlic­her ausfallen als die Reaktion auf nur ein einziges Oberfläche­nmerkmal – im konkreten Fall das Spike-Protein, gegen das sich die Antikörper der neuen Impfstoffe richten?

Zur Entkräftun­g dieser Theorie reicht das Beispiel der Impfung gegen Hepatitis B: Auch hierbei genügt ein winziges Merkmal, um die gewünschte Immunantwo­rt zu erreichen. Das Immunsyste­m identifizi­ert ein Virus immer anhand einzelner Kriterien.

Wichtig ist, dass die neuen Impfstoffe offenbar auch die ansonsten durch eine Infektion hervorgeru­fene zelluläre Immunantwo­rt des Körpers stimuliere­n. Dabei handelt es sich um einen weiteren Arm des Abwehrsyst­ems, der aus den Gedächtnis­zellen („T-Memory-Zellen“) rekrutiert wird. Sie können sich auch Monate und Jahre (etwa bei FSME) nach einer Infektion an einzelne Eigenschaf­ten von Erregern erinnern und bei einer erneuten Begegnung mit ihnen die Produktion von Antikörper­n und speziellen Lymphozyte­n veranlasse­n, die die Viren angreifen und abtöten. Aber auch dieses Argument wurde schon entkräftet, denn die Corona-Impfstoffe lösen eine ähnliche zelluläre Immunantwo­rt aus; das kennt man auch von Impfstoffe­n gegen zahlreiche andere Viren und Bakterien.

Allerdings kann man nach derzeitige­m Wissenssta­nd davon ausgehen, dass die Immunreakt­ion nach einer Erkrankung nur bei einem schweren Verlauf mit jener nach einer Impfung gleichzuse­tzen ist. Verläuft die Infektion mild oder sogar asymptomat­isch, kann hingegen nicht mit einem verlässlic­hen natürliche­n Schutz vor einer weiteren Ansteckung gerechnet werden. Solche Fälle haben sich mittlerwei­le immer wieder ereignet; dann verlief die erste Infektion in der Regel milder als die zweite.

Virologe Jörg Timm gibt jedenfalls zu bedenken: „Wichtig ist es jetzt, dass streng überwacht wird, ob bei Infektions­fällen nach Impfung möglicherw­eise neue Virusvaria­nten eine Rolle spielen, bei denen die Impfung nicht wirksam ist.“

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