Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Können Geimpfte trotzdem andere anstecken?
Die Corona-Impfung erzeugt keine sogenannte sterile Immunität. Doch ist das Risiko einer Übertragung offenbar geringer, weil die Menge der Viren in den Atemwegen kleiner wird.
DÜSSELDORF Der heilige Gral einer Medizinstudie ist der sogenannte Endpunkt. Er benennt das Ziel, er ist der Knackpunkt, auf den alle Statistiken ausgerichtet sind. Natürlich schauen die Forscher auch nach links und rechts. Doch wenn es bei einem neuen Medikament im sogenannten primären Endpunkt um die deutliche Senkung des Blutzuckerspiegels geht, wird niemand ein zweites Mal die Jubelfanfaren erschallen lassen, wenn es nebenbefundlich auch die Harnsäurewerte senkt.
Bei den Studien für einen Impfstoff gegen das Coronavirus lautete der Endpunkt: Kann er die Zahl schwerer Verläufe senken? Diese Frage wurde in den Phase-III-Studien sehr überzeugend bejaht. Die Ergebnisse hätten indes noch mehr Power gehabt, wenn man sämtliche Probanden zusätzlich regelmäßig per PCR-Test auf die Frage getestet hätte, ob sie sich trotz der Impfung infizieren konnten. Denn Viren können sich ja durchaus auf Schleimhäuten tummeln, ohne in die Zellen einzudringen und Schaden anzurichten. Das nennt man klinische Immunität. Trotzdem wäre es möglich, dass sie an andere weitergegeben werden – vielleicht in geringerer Menge, aber immerhin.
Wenn Viren durch eine Impfung sozusagen gleich bei ihrem Eintreffen abgefangen und vernichtet werden, ist das den neutralisierenden Antikörpern zu danken. Sie bewirken, vor allem wenn sie in großer Menge aktiviert werden, eine sogenannte sterile Immunität; bei Impfung gegen Kinderkrankheiten wie Masern, Röteln, Mumps, Windpocken und Kinderlähmung wird sie immer erzeugt.
Aber bei der Corona-Impfung ist das nicht ganz klar. In jedem Fall ist schon die klinische Immunität ein Segen. Sie liegt vor, wenn ein Virus zwar noch in Zellen eines Organismus eindringen kann, dort in begrenztem Maße auch noch vermehrt wird, es aber keine schwerwiegenden Krankheitssymptome mehr hervorruft. Beispiele für Impfungen, die zwar vor einer Erkrankung schützen, nicht aber vor einer
Infektion, sind jene gegen HPV und Meningokokken B.
Der Düsseldorfer Virologie-Professor Jörg Timm vom dortigen Universitätsklinikum kennt die Datenlage: „In den Zulassungsstudien für die Impfstoffe von Biontech und Moderna wurden Infektionen in der Gruppe der Geimpften deutlich seltener beobachtet als in der mit Placebo geimpften Kontrollgruppe. Aus den verfügbaren Daten lässt sich aber noch nicht sicher ableiten, ob der Impfstoff tatsächlich auch asymptomatische Infektionen verhindert – also eine sogenannte sterile Immunität verleiht – oder ob vor allem symptomatische und schwere Verläufe verhindert werden, die üblicherweise der Anlass für eine Testung sind.“Auch für Klaus Cichutek, Chef des Paul-Ehrlich-Instituts, hat die Sache zwei Seiten: „Es gibt aus den Tierversuchen keinen guten Hinweis darauf, dass wir wirklich eine sterile Immunität erreichen können.“Trotzdem glaubt er, „dass bei einer Verminderung der schweren Verläufe doch auch zumindest eine Reduktion der Viruslast in den oberen Atemwegen passiert“.
Und was sagt der Tierversuch? Nun, aus den Untersuchungen an geimpften Affen ist bekannt, dass sie zwar nicht erkranken, wenn sie mit Sars-CoV-2 infiziert werden, aber doch aktive Viren in ihren Nasen haben, die sie auch verbreiten können. Andererseits hatte man ihnen eine solch hohe Menge an Viren in die Nase gesprüht, die eine normale menschliche Infektion in Sachen Viruslast deutlich übertrifft. Gleichwohl sind die Ergebnisse der Tierversuche ein Hinweis darauf, dass Geimpfte vorerst als potenziell infektiös gelten und deshalb nicht von einer Maskenpflicht entbunden werden können.
Ebenfalls skeptisch ist bei der Immunität, noch dazu der sterilen, der Vorsitzende der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, Wolf-Dieter Ludwig: „Wir wissen relativ sicher, dass eine sogenannte sterile Immunität im Moment wahrscheinlich gar nicht erreichbar ist.“
Timm ist wie Cichutek optimistischer bei der Frage, ob von geimpften Menschen noch ein Infektionsrisiko ausgehen kann: „Selbst wenn möglicherweise sterile Immunität fehlen sollte, gehe ich davon aus, dass bei einer Infektion nach Impfung die Virusmengen in den Atemwegen deutlich geringer sind. Daher wird in jedem Fall die Impfung einen positiven Effekt auf die Verbreitung von Sars-CoV-2 haben, solange die Menschen kein vermehrtes Risikoverhalten zeigen.“
Es liegt auf der Hand, dass es für die Covid-19-Impfungen noch keine Langzeitstudien gibt. Bisherige Untersuchungen zeigen jedoch, dass die Impfstoffe eine bessere Antikörper-Antwort hervorrufen als eine natürliche Infektion, die ja nicht selten im Tod endet oder sogenannte Long-Covid-Symptome hervorruft. Von einer lebenslangen Schutzwirkung kann bei der Impfung zwar nicht ausgegangen werden. Doch selbst wenn der Schutz nur zwei Jahre anhält, kann nachgeimpft werden.
Mancher fragt sich trotzdem, ob eine natürliche Immunität nach durchgemachter Infektion nicht der sicherere Schutz sein könne. Seine Argumentation: Die Reaktion des
Bei Tierversuchen wurde Affen mit einem Nasenspray eine sehr hohe Dosis verabreicht
Immunsystems auf das komplette Virus müsste doch zwangsläufig stärker und verlässlicher ausfallen als die Reaktion auf nur ein einziges Oberflächenmerkmal – im konkreten Fall das Spike-Protein, gegen das sich die Antikörper der neuen Impfstoffe richten?
Zur Entkräftung dieser Theorie reicht das Beispiel der Impfung gegen Hepatitis B: Auch hierbei genügt ein winziges Merkmal, um die gewünschte Immunantwort zu erreichen. Das Immunsystem identifiziert ein Virus immer anhand einzelner Kriterien.
Wichtig ist, dass die neuen Impfstoffe offenbar auch die ansonsten durch eine Infektion hervorgerufene zelluläre Immunantwort des Körpers stimulieren. Dabei handelt es sich um einen weiteren Arm des Abwehrsystems, der aus den Gedächtniszellen („T-Memory-Zellen“) rekrutiert wird. Sie können sich auch Monate und Jahre (etwa bei FSME) nach einer Infektion an einzelne Eigenschaften von Erregern erinnern und bei einer erneuten Begegnung mit ihnen die Produktion von Antikörpern und speziellen Lymphozyten veranlassen, die die Viren angreifen und abtöten. Aber auch dieses Argument wurde schon entkräftet, denn die Corona-Impfstoffe lösen eine ähnliche zelluläre Immunantwort aus; das kennt man auch von Impfstoffen gegen zahlreiche andere Viren und Bakterien.
Allerdings kann man nach derzeitigem Wissensstand davon ausgehen, dass die Immunreaktion nach einer Erkrankung nur bei einem schweren Verlauf mit jener nach einer Impfung gleichzusetzen ist. Verläuft die Infektion mild oder sogar asymptomatisch, kann hingegen nicht mit einem verlässlichen natürlichen Schutz vor einer weiteren Ansteckung gerechnet werden. Solche Fälle haben sich mittlerweile immer wieder ereignet; dann verlief die erste Infektion in der Regel milder als die zweite.
Virologe Jörg Timm gibt jedenfalls zu bedenken: „Wichtig ist es jetzt, dass streng überwacht wird, ob bei Infektionsfällen nach Impfung möglicherweise neue Virusvarianten eine Rolle spielen, bei denen die Impfung nicht wirksam ist.“