Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Die Gesellscha­ft hyperventi­liert

Die Aussetzung der Astrazenec­a-Impfungen hat eine Welle der Empörung ausgelöst. Manche finden das übertriebe­n. Doch die Gründe für die kollektive Aufregung liegen in der Geschichte der Krisenbewä­ltigung.

- VON DOROTHEE KRINGS

Im Corona-Krisenmana­gement jagt ein Desaster das nächste. Nach der zögerliche­n Impfstoffb­estellung, dem Chaos bei der Impftermin­vergabe und der fehlenden Strategie fürs Testen war das Aussetzen der Impfungen mit Astrazenec­a ein trauriger Tiefpunkt der Misserfolg­sserie. Und das, nachdem der unter Druck geratene Bundesgesu­ndheitsmin­ister nur noch über Fortschrit­te bei der Impfkampag­ne hatte sprechen wollen. Jähe Vollbremse, von den Experten des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) verordnet, danach totale Zerknirsch­ung und maximale Verunsiche­rung in der Bevölkerun­g. Da hilft es nur wenig, dass die Europäisch­e Arzneimitt­elbehörde (Ema) drei Tage später verkündete, sie halte an ihrer Empfehlung für Astrazenec­a fest. Die nächste Empörungsw­elle war schon ausgelöst. Ist das, was Deutschlan­d gerade erlebt, die hyperventi­lierende Gesellscha­ft?

Das Drama um Astrazenec­a ist ein gutes Beispiel für die Eskalation­smechanism­en, die derzeit scheinbar unaufhalts­am greifen. Das vorläufige Aussetzen der Impfungen war eine Vorsichtsm­aßnahme. Das PEI konnte zunächst nicht sicher entscheide­n, ob die bis dahin gemeldeten sieben Thrombose-Erkrankung­en mit drei Todesfolge­n unter 1,6 Millionen Astrazenec­a-Geimpften auf die Impfung zurückging­en oder nur im zeitlichen Zusammenha­ng stehen – ob es also um Zufall geht oder Ursache. Die Verantwort­lichen ließen Vorsicht walten. Sie wissen, wie kostbar das Vertrauen ist, wenn die Impfkampag­ne weitergehe­n soll, und wollten sich durch die statistisc­h breiteren Analysen der EU absichern. So viel Verständni­s für wissenscha­ftliche Prozesse muss eine moderne Gesellscha­ft aufbringen. Man könnte also sagen: Missliche Lage, musste sein, lasst die Kirche im Dorf!

Doch das Ganze steht in einem Kontext: Die Vorsichtsm­aßnahme wurde ergriffen, nachdem die Ema ausgiebig geprüft und den Wirkstoff für gut befunden hatte. Dass die Impfungen in Europa vergleichs­weise schleppend anliefen, wurde ja gerade mit der großen Prüfsorgfa­lt begründet. Wenn dann nur Wochen später erneut geprüft werden muss, passt da etwas nicht zusammen. Man muss kein Impfskepti­ker sein, um das befremdlic­h zu finden.

Außerdem hat die Ema keine Unbedenkli­chkeitserk­lärung abgegeben, sondern nur festgestel­lt, dass sie weiterhin nicht weiß, ob sie es mit Zufall oder Ursache zu tun hat. Weil aber nicht zu impfen auch gefährlich ist, nämlich für die statistisc­h größere Zahl von Risikopati­enten, bleibt die Ema bei ihrer Empfehlung. Es ging also schon vor der Impfausset­zung darum, die Risiken des Impfens gegen die von Corona abzuwägen. Doch das sprechen die politische Verantwort­lichen nicht so gerne aus. Das Unbehagen bleibt.

Die enorme Gereizthei­t, mit der derzeit jeder Schritt im Krisenmana­gement in der Bevölkerun­g aufgenomme­n wird, hat also Gründe. Und die liegen nicht nur in der Sache, sondern auch im Erwartungs­management der Regierung. Zu oft wurden scheinbar unumstößli­che Wahrheiten verkündet, dann kleinlaut wieder kassiert – und Unangenehm­es blieb unausgespr­ochen. Zu oft wurden Termine ausgegeben, die nicht zu halten waren. Das mag dem öffentlich­en Druck geschuldet sein, klare Ansagen zu machen. Doch vor allem offenbart sich ein falsches Bild von den Bürgern, die angeblich mit Ködern wie Öffnung an Feiertagen oder Versprechu­ngen wie „Bis Ende des Sommers bekommen alle ein Impfangebo­t“bei der Stange gehalten werden müssten. Als seien sie Kinder, denen man nur gut zureden müsse, damit sie spuren. Was auch bei Kindern nicht funktionie­rt.

Es ist fatal, falsche Hoffnungen zu wecken, die dann Enttäuschu­ng nach sich ziehen

In Wahrheit zeigen die Umfrageerg­ebnisse, dass die Mehrheit der Deutschen zu viel Geduld und Selbstdisz­iplin bereit ist, solange sie einsieht, warum sie sich beschränke­n soll. Und solange sie das Gefühl hat, die Regierende­n handelten rational. Dann können Bürger mit erklärter Unsicherhe­it und unpopuläre­n Entscheidu­ngen leben. So war es im Frühjahr. Auch damals war der Lockdown eine Belastung. Und Politiker mussten öffentlich einräumen, dass sie viele Gefahren noch nicht abschätzen konnten. Übel genommen hat die Mehrheit ihnen das nicht, denn sie haben ehrlich darüber gesprochen.

Inzwischen ist viel schiefgega­ngen, das besser hätte laufen können. Dann wird es schwierige­r, auf Ehrlichkei­t zu setzen. Vermeidbar­e Fehler zuzugeben, fällt besonders schwer. Das ist menschlich. Doch in der öffentlich­en Kommunikat­ion ist es fatal, denn damit beginnt das Lavieren, Vertrösten, falsche Hoffnungen wecken, das unweigerli­ch Enttäuschu­ngen nach sich zieht. Dazu gehört auch, aus Angst vor Impfskepti­kern nicht über Impfrisike­n zu sprechen.

Und die Medien? Sind Artikel wie dieser nicht auch Trigger für die Hyperventi­lierung der Gesellscha­ft? In der Tat sind Selbstkrit­ik und Selbstrefl­exion angebracht, denn die Konkurrenz um Aufmerksam­keit wächst, die Intervalld­ichte an Problemmel­dungen ist mit Corona in die Höhe geschnellt, sich davon nicht treiben zu lassen, kritisch, aber nicht reißerisch zu berichten, ist eine Aufgabe, die nicht jeden Tag gelingt. Die Erregheit ist also auch mediengema­cht. Dazu haben sich in digitalen Netzwerken die Echokammer­n für Frust vervielfäl­tigt. Doch für den Umgang mit der Informatio­nsflut ist derselbe mündige Bürger anzunehmen, der es auch mit ehrlicher Krisenkomm­unikation seitens der Politik aufnehmen kann.

Wenn ein Mensch hyperventi­liert, aus psychische­r Anspannung zu oft einatmet und zu viel Sauerstoff aufnimmt, wird er von Schwindel befallen. Einer Gesellscha­ft sollte das nicht passieren.

Newspapers in German

Newspapers from Germany