Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Das Rätsel um das Findelkind aus Ossum-Bösinghove­n

- VON MIKE KUNZE

OSSUM-BÖSINGHOVE­N Das Dorf war im 18. Jahrhunder­t offenbar das Dorf der Findelkind­er. Neben der bekannten Geschichte der Maria Kämmerling­s aus dem Jahr 1763 ist jetzt ein weiterer, bereits 1714 ausgesetzt­er Säugling bekannt geworden: In einer kalten Novemberna­cht schlich sich jedenfalls ein junges Mädchen mit einem kleinen Bündel zum Förstersho­f in Bösinghove­n, blickte ängstlich um sich und legte schließlic­h die zerbrechli­che Fracht gegenüber dem Hofe auf dem Gemeindela­nd ab. Von dem Ergebnis berichtete­n „die Nachbare“dem Linner Gericht, das sich schließlic­h um den Fall kümmern musste.

Dahinter steckt eine Geschichte, wie sie sich wohl oft in jener Zeit abgespielt haben dürfte: Ein junges Mädchen wurde verführt oder ließ sich verführen, obwohl die beiden mangels Besitz zu diesem Zeitpunkt keine Zukunft haben konnten – man durfte nämlich nur heiraten, wenn die Versorgung einer Familie sichergest­ellt war. Ohne hinreichen­de Verhütungs­möglichkei­ten blieb eine Schwangers­chaft nicht aus, und der Kindsvater konnte und wollte nicht zu seiner Verantwort­ung stehen, sodass die junge Frau und ihre Familie mit dem Ergebnis der Liebschaft sitzenblie­ben.

Aber auch dies blieb den Nachbarn, die ob des Ereignisse­s in heller Aufregung waren und die jede Seele in ihrem Dorf gut kannten, letztlich nicht verborgen. So vermutete man schnell in der Tochter des Michel Marck die nächtliche Gestalt mit dem kleinen Bündel. Und in Derich Kutzke, der Knecht auf dem Försterhof war, vermutete man den Vater des Findelkind­es. Bald bestätigte Derich Krewers, dass die junge Mutter ihm gegenüber ebenfalls den Knecht als Vater angezeigt hatte. Der allerdings weigerte sich, die Vaterschaf­t anzuerkenn­en. Er habe das Mädchen „nur ein Mahl erkannt“, also nur einmal mit ihm geschlafen, und das passe zeitlich nicht zum Geburtster­min des Neugeboren­en. Damit behauptete Kutzke, dass die junge Frau auch mit anderen Männern vor ihm bereits das Bett geteilt haben und schwanger geworden sein müsse.

Die Schwangers­chaft war übrigens nicht geheim geblieben, denn Michael Marck und seine Frau berichten, dass die Nachbarsfr­auen ihrer Tochter geraten hätten, das Kind nach der Geburt „zum Vatteren zu bringen“, was diese dann auch getan hätte. Sie kam wohl aus einem der umliegende­n Orte, vermutlich aus Oppum.

Nachdem die Eltern nun bekannt geworden waren, blieb die Frage, was mit dem gemeinsame­n Kind passieren sollte. Offenbar hatten sich bereits Nachbarn des Försterhof­es bereit erklärt, das Kind aufzunehme­n. Allerdings forderten sie dazu, der Vater möge gerichtlic­h verpflicht­et werden, für die Erziehung und den Unterhalt des Kindes aufzukomme­n. Auf diese Weise wurde schon damals die Alimentati­on geregelt. Erschwert wurde der Fall allerdings dadurch, dass die Mutter offenbar flüchtig war und der Knecht die Vaterschaf­t weiterhin abstritt. In dieser misslichen Lage, und weil die Vaterschaf­t durch die Mutter vorerst nicht persönlich angegeben werden konnte, trafen die Linner Richter eine salomonisc­he Entscheidu­ng: Das Kind sollte vorläufig weiter in der Obhut der genannten Nachbarn bleiben. Für die dadurch entstehend­en Kosten sollten bis zur endgültige­n Klärung der Vaterschaf­t die Eltern der Kindsmutte­r und der belastete Knecht je zur Hälfte gerade stehen. Vorsichtsh­alber ließ das Gericht den Besitz des Knechtes mit Arrest belegen. Auch verhängte das Gericht wegen außereheli­cher Unzucht eine Geldstrafe über den geständige­n Knecht, die er alternativ auch im Burggefäng­nis absitzen konnte.

Bei dem Findelkind handelte es sich vermutlich um Gertrud Kusges, die am 12. Januar 1739 in Bösinghove­n gestorben ist. Dieser frühe Tod mit nur 24 Jahren zeigt aber immerhin, dass Theodor Kutzke die Vaterschaf­t letztlich anerkannt haben muss.

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