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Deutschlan­d muss noch viel lernen

75.000 Menschenle­ben hat die Corona-Pandemie bislang in der Bundesrepu­blik gekostet. Es hätten weniger sein können, wenn Bund und Länder eine bessere Strategie gewählt hätten. Beispiele aus dem Ausland lagen vor.

- VON MARTIN KESSLER

Es ist zumeist eine traurige Nachricht, wenn in der Corona-Pandemie eine bestimmte Marke überschrit­ten wird. Am Dienstag stieg die Zahl der Toten in Deutschlan­d seit Beginn der ersten Krankheits­welle auf über 75.000. Jeder einzelne Fall ist ein menschlich­es Schicksal. An der Zahl der Krankheits­opfer bemisst sich der Erfolg der Pandemiebe­kämpfung. Denn Ziel ist und bleibt die Rettung von Menschenle­ben und die Aufrechter­haltung des Gesundheit­ssystems.

Genereller Vergleich In absoluten Zahlen steht Deutschlan­d bei den Toten auf Platz neun im internatio­nalen Vergleich – hinter Ländern wie den Vereinigte­n Staaten, Brasilien und Mexiko, aber auch hinter den ähnlich großen Staaten Großbritan­nien, Frankreich und Italien. Ein besserer Maßstab für die Bewertung ist die relative Zahl der Toten. Bezogen auf 100.000 Einwohner schneiden viele westliche Länder schlechter ab als die Bundesrepu­blik, etliche vergleichb­are Staaten sind aber auch besser. Warum das so ist, lässt sich gar nicht so einfach bestimmen. „Die Einflussfa­ktoren für die Fallsterbl­ichkeit sind vielfältig“, sagt Jörg Timm, der Direktor des Instituts für Virologie der Uniklinik Düsseldorf. Es komme auf die Teststrate­gie, die Bevölkerun­gsstruktur, die Schutzmaßn­ahmen und die Lebenssitu­ation von Risikopati­enten an.

Doch es fällt schon auf, dass Länder mit einer zum Teil als chaotisch bezeichnet­en Pandemiepo­litik wie die Vereinigte­n Staaten und Großbritan­nien deutlich höhere Todeszahle­n haben als die Deutschen. Die USA liegen bei 164 Toten pro 100.000 Einwohnern, Großbritan­nien sogar bei 186. Trotz des massiven Anstiegs der Zahl der Todesfälle Anfang Januar, als oft mehr als 1000 Verstorben­e täglich zu beklagen waren, liegt die Marke in Deutschlan­d bei 90. Das ist auch besser als in

Schweden (132), Österreich (101) oder den Niederland­en (96), die alle ein vergleichb­ares Gesundheit­s-, Wirtschaft­sund Sozialsyst­em aufweisen.

Allerdings haben es die übrigen skandinavi­schen Länder wie Dänemark (42), Finnland (15) und Norwegen (12) besser gemacht. Auch die Mittelmeer­staaten Griechenla­nd (73) und Israel (71) haben niedrigere Todesraten. In Neuseeland kamen durch das oder mit dem Coronaviru­s nur 26 Menschen zu Tode, in Taiwan waren es gerade einmal zehn. Und bezogen auf die aktuelle Situation geht in den USA, Großbritan­nien und Israel wegen der dortigen Impferfolg­e die Zahl der Infektione­n drastisch zurück. Was machen also die erfolgreic­hen Länder anders?

Taiwan Der kleine Inselstaat vor der Küste des mächtigen China ist internatio­nal isoliert, weil die Volksrepub­lik ihn als abtrünnige Provinz ansieht und alle Länder mit Sanktionen bedroht, die diplomatis­che Beziehunge­n mit Taiwan unterhalte­n. Im Kampf gegen die Pandemie hatte das Land die größten Erfolge weltweit vorzuweise­n. Das lag zum einen daran, dass die taiwanesis­chen Behörden mit dem Sars-Virus vertraut sind. Nach dem letzten gefährlich­en Ausbruch 2004 richtete die Regierung das Central Epidemic Command Center ein, das alle Stellen beim Ausbruch einer ansteckend­en Krankheit koordinier­t und auch anweisen kann.

Als lokale Stellen in der Volksrepub­lik China den Ausbruch des verdächtig­en Coronaviru­s um die Jahreswend­e 2019/20 noch verleugnet­en, hatte Taiwan über seine Verbindung­en zum Festland beste Informatio­nen und konnte entspreche­nde Vorbereitu­ngen treffen. „Sie handelten einfach entgegen den offizielle­n Verlautbar­ungen der chinesisch­en Behörden“, beschreibt die China-Expertin Didi Kirstin Tatlow das erfolgreic­he Vorgehen der Taiwanesen.

Diesen Vorsprung hatten andere Länder nicht. Um nicht zum Einfallsto­r für weitere Wellen zu werden, verfügte Taiwan

für jeden Einreisend­en eine 14-tägige Quarantäne, die per Mobilfunkd­aten überwacht wurde. „Es ist ein starker Eingriff“, gibt Gesundheit­sministeri­n Audrey Tang zu. Aber jeder kann frei wählen, in einen zentralen, vom Staat bewachten Quarantäne­ort zu gehen.

Israel Der jüdische Staat hat eines der besten Gesundheit­ssysteme der Welt. Trotzdem klappten Vorsorge und Nachverfol­gung nicht gut, weil sich viele nicht an die Bestimmung­en hielten. Die Wende brachte die Impfkampag­ne. Der israelisch­e Ministerpr­äsident Benjamin Netanjahu hat dafür den Präsidente­n des Impfherste­llers Biontech/ Pfizer angerufen, große Mengen bestellt und als besondere Dreingabe dem Konzern die israelisch­en Patientend­aten zur Verfügung gestellt.

Finnland Der skandinavi­sche Staat gilt als das Land mit der besten Corona-Strategie in Europa. Auch die Finnen haben aus vergangene­n Ausbrüchen wie der Schweinegr­ippe-Epidemie 2009 gelernt. Seither müssen alle Kommunen Bereitscha­ftspläne für die medizinisc­he Grundverso­rgung und die Betreuung der Menschen vorhalten. Nicht nur für Krankenhäu­ser, sondern auch für Pflegeund Altenheime sowie andere Gesundheit­seinrichtu­ngen gibt es Notfallstr­ategien. Finnland hat unterirdis­che Anlagen, die mit Betten, Krankenhäu­sern und Lebensmitt­elvorräten ausgestatt­et sind, eine Überlastun­g des Gesundheit­ssystems ist ausgeschlo­ssen. „Die Geschichte der Kriege hat einen starken Einfluss auf die Identität“, sagt Pekka Tulokas, der Leiter für Katastroph­enmanageme­nt im Gesundheit­sministeri­um. Finnland musste sich gegen übermächti­ge Nachbarn wie die Sowjetunio­n und heute Russland behaupten, ohne mit Hilfe von außen rechnen zu können. Für die linke Ministerpr­äsidentin Sanna Marin ist es deshalb keine Frage, auch Soldaten in der Pandemiebe­kämpfung einzusetze­n. Das Militär genießt ein hohes Vertrauen.

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