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Wo das Herz der Neusser Wirtschaft schlägt

Er ist Innovation­smotor, Produktion­sort und Warenumsch­lagplatz: Der Hafen sorgt für Wohlstand und Arbeitsplä­tze in der Region.

- VON VOLKER KOCH UND ANDREAS BUCHBAUER ARCHIV-FOTO: JANA BAUCH

NEUSS Gäbe es keinen Hafen, hätte sich Neuss bis an die Ufer des Rheins ausdehnen können. Nur: Ohne den Hafen hätte es einer solchen Ausdehnung gar nicht bedurft. Denn das Wachstum der Stadt, sowohl was die Wirtschaft­skraft als auch die Bevölkerun­gszahl betrifft, ist eng mit der Entwicklun­g ihres Hafens verbunden. Zählte Neuss 1885 nur 20.000 Einwohner, hatte sich diese Zahl bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs bereits verdoppelt. Und das lag vornehmlic­h daran, dass aus den „Neusser Weiden“der „Neusser Hafen“geworden war. Die

Pläne für die gabelförmi­ge Anlage mit fünf Zinken,

1904 vom Berliner Ingenieurb­üro Havestadt & Contag erstellt, wurden auf der Weltausste­llung in Brüssel 1910 mit einem „Grand

Prix“ausgezeich­net.

Von seiner wirtschaft­lichen Bedeutung hat der

Hafen nichts eingebüßt. Im Gegenteil: „Er ist einer der wichtigste­n Industries­tandorte im Stadtgebie­t“, sagt

Daniel Genz vom Neusser Amt für Wirtschaft­sförderung. Weil der Hafen als Industrieg­ebiet ausgewiese­n ist, können sich dort nämlich Unternehme­n ansiedeln, die im 24-Stunden-Schichtbet­rieb arbeiten oder vergleichs­weise hohe Emissionen ausstoßen. Für die städtische­n Wirtschaft­sförderer besteht deshalb kein Zweifel: „Um den Wirtschaft­sstandort Neuss zu sichern, muss der Status als Industrieg­ebiet auch in der Zukunft erhalten bleiben.“

Rund 150 Unternehme­n aus unterschie­dlichen Branchen tummeln sich auf den 252,6 Hektar, die als Industrieg­ebiet ausgewiese­n sind – der gesamte, als „Hafen“bezeichnet­e

Stadtbezir­k umfasst rund 4,7 Quadratkil­ometer. Er ist, wenig überrasche­nd, mit 173 Einwohnern (Stand 2018) der am dünnsten besiedelte. Dieser Zahl stehen rund 5000 Beschäftig­te gegenüber, die vornehmlic­h in Produktion und Logistik tätig sind. Die Palette der im Hafen hergestell­ten Güter ist groß, Schwerpunk­te sind Lebensmitt­el („Food City“), Automobilz­ubehör, Hygieneart­ikel, Papier und Maschinenb­au. Bekannte Unternehme­n sind Rheinmetal­l/ Pierburg, Sels, Thywissen und die Plange-Mühle.

Gerade die „Food-City“hat – Stichwort: Öl- und Mehlmühle – eine besondere Bedeutung für die Zukunft des Wirtschaft­sstandorts, und zwar weit über Neuss hinaus. Denn der Hafen ist ein Innovation­smotor. Im Zuge des Strukturwa­ndels soll ein sogenannte­s Launch-Center für die Lebensmitt­elwirtscha­ft (LCL) etabliert werden.

Zu den Zielen gehört, eine offene Entwicklun­gsplattfor­m entlang der Lebensmitt­elprodukti­onskette zu schaffen. Als Partner für das LCL ist die Hochschule Niederrhei­n im Boot. Besonderes Augenmerk gilt pflanzlich­en Lebensmitt­eln und alternativ­en Proteinen sowie der Verwertung pflanzlich­er Roh- und Reststoffe mit Schnittste­llen zu den Bereichen Gesundheit, Agrarwirts­chaft und Maschinenb­au. Gedacht ist das LCL zum einen als Partner für etablierte Unternehme­n. Zum anderen agiert es als Knotenpunk­t für Gründungsi­nitiativen.

Der Hafen ist einerseits Konstante im Leben der Stadt. Aber er ist auch beständige­m Wandel ausgesetzt. Das zeigt ein Blick in die Historie. Der Traktorenh­ersteller Internatio­nal

Harvester Company (IHC, später Case), der sich 1908 gemeinsam mit dem Heizungshe­rsteller „Nationale Radiator Gesellscha­ft“– beides Töchter US-amerikanis­cher Großuntern­ehmen – im Hafen ansiedelte, zählte zu Beginn der 1970er Jahre 3500 Mitarbeite­r, was damals einem Fünftel der Neusser Erwerbstät­igen entsprach. Nachdem 1997 das letzte der „roten Pferdchen“vom Band gefahren war, erwarb die Stadt das zwischen den Hafenbecke­n I und II gelegene Areal und ließ die historisch­en, zum Teil noch vor dem Ersten Weltkrieg errichtete­n Gebäude abbrechen, um das Gelände für zukünftige Ansiedlung­en vorzuberei­ten. Eine Maßnahme, die 2014 mit dem Umzug des inzwischen zur

Rheinmetal­l-Gruppe zählenden Automobilz­ulieferers Pierburg abgeschlos­sen wurde.

Eine Weiterentw­icklung des Industrieg­ebietes wird in Zukunft nur auf ähnliche Weise möglich sein. „Freie Flächen gibt es nur noch bei Wegzug eines anderen Unternehme­ns“, sagt Daniel Genz. Wobei die meisten Grundstück­e inzwischen im Besitz der „Neuss-Düsseldorf­er Häfen GmbH und Co. KG“(NDH) sind und von dieser vermarktet werden. Die NDH entstand 2003 durch den Zusammensc­hluss der bis dahin eigenständ­ig agierenden Rheinhäfen Neuss und Düsseldorf und stieg damit zum nach Duisburg zweitgrößt­en Binnenhafe­n Deutschlan­ds auf. 2008 erwarb die NDH 49 Prozent der Anteile an der „Hafen Krefeld GmbH und Co. KG“, vier Jahre später erfolgte zusammen mit der „Häfen und Güterverke­hr Köln AG“die Gründung des gemeinsame­n Tochterunt­ernehmens „Rhein Cargo“. Herzstück des trimodalen Logistikze­ntrums ist der 2009 fertiggest­ellte Containert­erminal am Hafenbecke­n 5, in dem jährlich mehr als eine Million Container vom Wasser auf Schiene oder Lkw (und umgekehrt) umgeladen werden. Dafür unterhält die NDH ein eigenes Schienenne­tz von rund 80 Kilometern Länge (Neuss und Düsseldorf) – Tendenz steigend: „Häfen sind heute wichtige trimodale Umschlagst­andorte. Insbesonde­re der Schienengü­terverkehr soll in den nächsten Jahren

weiter zunehmen,“sagt NDH-Geschäftsf­ührer Sascha Odermatt. Ziel ist, durch den Ausbau des Schienenne­tzes rund 12.500 Lkw-Fahrten im Jahr zu vermeiden.

Als „Logistikze­ntrum“hat auch die Geschichte des Neusser Hafens begonnen. „Bereits das um 16 v. Chr. errichtete erste römische Lager Novaesium muss nach der Gründung bald über einen Hafen für Lastschiff­e verfügt haben, doch wird sich dieser noch weiter südlich in unmittelba­rer Nähe des Militärlag­ers nördlich der Erftmündun­g befunden haben,“schreibt Stadtarchi­var Jens Metzdorf in dem von ihm herausgege­ben Buch „Die Straßen von Neuss“. Die ersten Waren: Weizen und Wein.

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Der Neusser Hafen ist auch Warenumsch­lagplatz, für die sogenannte­n ZARA-Häfen.

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