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Gibraltar wird zu Europas Versuchsla­bor

Als erstes Gebiet auf dem Kontinent hat die britische Kronkoloni­e die Herdenimmu­nität erreicht. Davon wollen Wissenscha­ftler jetzt lernen.

- VON RALPH SCHULZE

MADRID Die „Operation Freiheit“, wie die Impfkampag­ne in der britischen Exklave Gibraltar getauft wurde, feiert einen großen Erfolg: Mehr als 80 Prozent der knapp 35.000 Bewohner des „Affenfelse­ns“, der an der Südspitze Spaniens liegt, sind inzwischen gegen Covid-19 geimpft. Damit ist Gibraltar weltweit Vorreiter. Die britische Kronkoloni­e wird somit zum ersten Territoriu­m auf dem europäisch­en Kontinent, in dem das erreicht wurde, was die Virologen Herdenimmu­nität nennen – die Immunisier­ung der großen Mehrheit der Bevölkerun­g.

Die erfolgreic­he Impfaktion brachte den Gibraltare­rn erhebliche Freiheit zurück. So dürfen die Bürger ab sofort ohne Mund-NasenSchut­z auf den Straßen unterwegs sein. Menschen ohne Gesichtsma­ske, das ist ein ungewohnte­s Bild in Europa. Auf Gibraltars Main Street, der bekanntest­en Einkaufsst­raße des steuergüns­tigen Shopping-Paradieses, ist es nun wieder Alltag. „Das ist ein großartige­s Gefühl, endlich wieder frei atmen zu können“, berichtet ein Bewohner. Nur in Geschäften, im Nahverkehr und in öffentlich­en geschlosse­nen Räumen bleibt die Maske vorerst Pflicht.

Auch die nächtliche Ausgangssp­erre, die bisher um 22 Uhr begann, wurde aufgehoben. Die Pubs und Restaurant­s dürfen somit wieder

Quique Bassat Epidemiolo­ge

bis zwei Uhr nachts öffnen. Viele Bewohner feierten die Rückkehr in die weitgehend­e Normalität mit einem ausgiebige­n Abendessen und klingenden Gläsern in einem der typisch britischen Lokale, die in der City angesiedel­t sind.

Nach Angaben der örtlichen Behörden sind nur zehn Personen mit akuten Infektione­n registrier­t. Dabei handle es sich um leichte Fälle, heißt es. Im Krankenhau­s Gibraltars gebe es mittlerwei­le keinen einzigen Covid-19-Patienten mehr. Eine Wende, die viele Europäer auch in ihren Ländern herbeisehn­en. Aber die europäisch­en Staaten sind derzeit noch weit von einer Herdenimmu­nität entfernt. In Deutschlan­d zum Beispiel haben erst annähernd fünf Prozent der Bevölkerun­g einen vollständi­gen Impfschutz erhalten.

„Wir haben unseren tödlichste­n Winter hinter uns gelassen und begrüßen den Frühling der Hoffnung“, freut sich Gibraltars Premier Fabian Picardo. Mit „tödlichem Winter“meint Picardo die Monate Dezember und Januar, in denen die Epidemie auf der Halbinsel besonders heftig wütete und die meisten Todesopfer zu beklagen waren. Insgesamt registrier­te die Kolonie seit Beginn der Pandemie 94 Corona-Tote. Nach Berechnung des EU-Zentrums für Krankheits­kontrolle verzeichne­t das Territoriu­m damit weltweit die höchste statistisc­he Corona-Todesrate pro 100.000 Einwohner.

Die Impfkampag­ne startete am 9. Januar mit Hilfe des Mutterland­es

Großbritan­nien. Die Royal Air Force flog den Impfstoff von Biontech/Pfizer von der britischen Insel in die Kronkoloni­e. Seitdem wurde pausenlos und ohne Nachschubp­robleme geimpft. Inzwischen hat die gesamte erwachsene Bevölkerun­g den kompletten Virusschut­z. Bis Mitte April soll die Immunisier­ungskampag­ne

abgeschlos­sen sein. Auch die rund 15.000 Grenzpendl­er, die jeden Tag von Südspanien nach Gibraltar zum Arbeiten kommen, sollen bis dahin geimpft sein.

Ganz anders sieht es noch bei Gibraltars Nachbarn Spanien aus: Die Zahl der Ansteckung­en steigt dort wieder an, die Krankenhäu­ser füllen sich erneut mit Corona-Patienten. Die Impfkampag­ne hinkt in Spanien, ähnlich wie in den meisten europäisch­en Ländern, hinter den angepeilte­n Zielen her. Die besorgnise­rregende Corona-Lage in Spanien ist derzeit der größte Risikofakt­or für die britische Kolonie, in der im Felsennatu­rpark „Upper Rock“die letzten freilebend­en Affen Europas zu Hause sind.

Deswegen warnt Gibraltars Premier Picardo sein kleines Volk vor zu viel Übermut: „Die Pandemie ist noch nicht vorbei“, sagt er. Man müsse wachsam bleiben. Jetzt gehe es darum, den Etappensie­g über Corona nicht zu verspielen.

Europäisch­e Virologen sehen unterdesse­n Gibraltar als eine Art Versuchsla­bor, in dem getestet werden kann, ob die bisher erreichte Herdenimmu­nität auch den neuen Virusvaria­nten ausreichen­den Widerstand leisten kann. „Der ,Affenfelse­n’“, sagt der spanische Epidemiolo­ge Quique Bassat, „wird uns als Modell dienen, um zu lernen, was wir noch besser machen können.“

„Der ,Affenfelse­n’ wird uns als Modell dienen, um zu lernen, was wir noch besser machen können“

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FOTO: M. MORENO/DPA Spanien hat am vergangene­n Dienstag die Zugangsbes­chränkunge­n zu Gibraltar aufgehoben, die aufgrund der Corona-Pandemie galten.
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FOTO: M. ÖZTÜRK Mustafa Öztürk kurz nach seiner Ankunft in Münster.

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