Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Eiszeit zwischen den USA und der Türkei
Die Armenien-Erklärung des US-Präsidenten wird die Beziehungen der Länder nachhaltig verändern.
ANKARA Zwischen der Türkei und den USA werde ab sofort nichts mehr so sein wie vorher, sagte der türkische Nationalistenchef Devlet Bahceli: „Wir stehen an einer Wegscheide.“Dass US-Präsident Joe Biden die osmanischen Massaker an den Armeniern offiziell als Völkermord eingestuft hat, will Bahceli nicht hinnehmen. Nicht nur Bahceli ist empört. Fast alle Parteien und führenden Politiker der Türkei weisen Bidens Erklärung zurück; die Regierung bestellte den US-Botschafter ins türkische Außenamt. Nur einer hielt sich am Wochenende auffällig zurück: Präsident Recep Tayyip Erdogan.
Viele europäische Länder und Erdogans Partner Russland haben den Tod von bis zu 1,5 Millionen Armeniern
im Osmanischen Reich als Völkermord gebrandmarkt, doch die USA hatten dies bisher vermieden, um den Nato-Verbündeten nicht zu verärgern. Biden setzte sich am Gedenktag am 24. April darüber hinweg.
Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu warf Biden Populismus vor, Erdogans Sprecher Ibrahim Kalin nannte das Handeln des US-Präsidenten „prinzipienlos“. Das Außenministerium sprach von einer „tiefen Wunde“für die Beziehungen. Auch Oppositionspolitiker wie der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu, ein potenzieller Präsidentschaftskandidat, verurteilten Bidens Entscheidung.
Seine Erklärung ist nicht nur eine
Demütigung der Türkei durch die westliche Führungsmacht, sondern auch eine persönliche Niederlage für Erdogan. Der amerikanische Präsident hält seinen türkischen Kollegen seit seinem Amtsantritt im Januar auf Distanz und rief ihn am Tag vor seiner Erklärung zum ersten Mal an – um ihm mitzuteilen, was er zu der Armenier-Frage sagen werde. Erdogan, der sich sonst gerne mit ausländischen Politikern anlegt, schwieg. Erst nach einer Kabinettsitzung an diesem Montag werde sich der Präsident öffentlich äußern, berichteten türkische Medien.
Bei einer Reaktion auf Bidens Erklärung muss Erdogan abwägen. Nicht nur Koalitionspartner Bahceli erwartet von ihm eine entschiedene
Devlet Bahceli
Chef der türkischen Nationalisten Antwort: Die allermeisten Türken weisen den Völkermords-Vorwurf zurück. Vier von fünf Türken betrachten die USA zudem als größte Bedrohung für ihr Land, wie eine Umfrage ergab. Einige Nationalisten fordern, die Türkei solle die wichtige Luftwaffenbasis Incirlik für die amerikanische Luftwaffe sperren.
Doch Erdogan muss auch die türkische Wirtschaft im Blick haben, die unter einem starken Wertverlust der Landeswährung, hoher Inflation und steigender Arbeitslosigkeit leidet. Wenn Erdogan nun scharf reagiert, könnte er der eigenen Wirtschaft noch mehr schaden.
Unabhängig davon wird sich die Türkei auf eine neue Realität in ihrem Verhältnis zu den USA einstellen müssen: Biden hat mit seinem hochsymbolischen Schritt die Beziehungen herabgestuft.
„Wir stehen an einer Wegscheide“