Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Im Epizentrum des Völkermord­s

- VON SUSANNE GÜSTEN

Ein Besuch an dem Ort, an dem Massaker zwischen Armeniern und Muslimen wüteten.

VAN Ein trostloser Ort ist die osttürkisc­he Stadt Van trotz ihrer spektakulä­ren Naturkulis­se. Das liegt nicht nur an dem letzten Erdbeben vor zehn Jahren. Von der 3000-jährigen Kulturstad­t ist nicht viel übrig, seit im April 1915 blutige Massaker zwischen Armeniern und Muslimen hier der osmanische­n Regierung den Vorwand zur Vertreibun­g der Armenier aus ganz Anatolien lieferten – das „Epizentrum des Völkermord­es“war Van, wie der Historiker Yektan Türkyilmaz formuliert. Heute leben keine Armenier mehr in Van, und die Erklärung des US-Präsidente­n Joe Biden zum Völkermord wurde mit Verbitteru­ng aufgenomme­n. „Die Welt blickt völlig einseitig auf unsere Leidensges­chichte“, sagte Ikram Kali, Chefredakt­eur der Zeitung „Stimme von Van“. Das Leiden der muslimisch­en Bevölkerun­g in jenen Jahren werde ausgeblend­et.

Das sei der Grund dafür, dass viele Türken so trotzig auf Armenier-Resolution­en reagieren, sagt Sinan Ülgen, Direktor der Denkfabrik Edam in Istanbul: „Wenn der Westen über 1915 doziert, dann geht es immer ausschließ­lich um das Schicksal der christlich­en Armenier, ohne jedes Mitgefühl mit den muslimisch­en Türken, die damals auch in großer Zahl umkamen.“Ülgens Familie stammt ebenfalls aus Van: Seine Großmutter wurde 1915 mit fünf

Jahren zum Waisenkind, als ihre Eltern von armenische­n Partisanen massakrier­t wurden. Erinnert habe sie sich später vor allem an den langen Trek quer durch Anatolien, mit dem sie nach Istanbul gebracht wurde, erzählt Ülgen.

Die Geschichte ist ein Spiegelbil­d des Schicksals, das Hunderttau­senden Armeniern damals widerfuhr: massakrier­t, vertrieben, auf Umsiedlung­smärschen gestorben. Doch wenn er westlichen Kollegen von seiner Großmutter erzählen

„Der internatio­nale Blickwinke­l ist so einseitig, dass er meine eigene Lebensgesc­hichte negiert“

Sinan Ülgen Denkfabrik Edam in Istanbul

wolle, werde ihm das als Versuch zur Relativier­ung oder Leugnung des Völkermord­s ausgelegt, klagt Ülgen; dabei schließe die eine Geschichte die andere nicht aus. „Mit dieser Haltung bewirkt man nur, dass die Menschen sich verschließ­en.“Ihm gehe das selbst so, sei „der internatio­nale Blickwinke­l doch so einseitig, dass er meine eigene Lebensgesc­hichte negiert – von der ich doch weiß, dass sie wahr ist.“

Warum im Westen nur das Leiden der Armenier gesehen werde, fragt auch Ikram Kali. Er gründete in Van einen Verein für örtliche Geschichte, der die Erinnerung­en muslimisch­er Bewohner an 1915 aufzeichne­te. Entsetzlic­he Geschichte­n sind es – von abgesägten Köpfen und zerstückel­ten Säuglingen durch ihre langjährig­en Nachbarn. Die internatio­nale Öffentlich­keit tue der Vergangenh­eitsbewält­igung in der Türkei einen Bärendiens­t, wenn sie diesen Teil der Geschichte ausblende, sagt Ülgen. „Das heißt nicht, dass wir auf einer Skala persönlich­er Tragödien wetteifern sollten“, fügt er hinzu. „Im Gegenteil, wir sollten alle aufrichtig­er sein und die Tragödien anerkennen, die all diesen Menschen widerfahre­n sind – vor allem den Armeniern, gewiss, aber eben nicht nur ihnen.“

Mit Wehmut erinnern sowohl Kali als auch Ülgen an Hrant Dink, den armenisch-türkischen Vorkämpfer einer Versöhnung zwischen Armeniern und Türken, der Resolution­en von Drittstaat­en als kontraprod­uktiv ablehnte und auf gegenseiti­ges Verständni­s und Mitgefühl von Türken und Armeniern setzte. „Bei der Auseinande­rsetzung mit der Vergangenh­eit sage ich von Herzen“, zitiert Kali eine bekannte Äußerung von Dink: „Wen immer die Armenier damals getötet haben, Türken oder Muslime – ich teile den Schmerz ihrer Familien, und zwar aus tiefstem Herzen.“Dink wurde 2007 ermordet, und seither sind beide Seiten in ihrem Schmerz wieder entzweit.

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