Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Spielzeugw­elt hinterm Deich

Die Watteninse­l Texel hat eine wilde Seite an der Nordsee und eine zahme am Wattenmeer. Dazwischen wachen 14.000 Schafe über eine Miniaturwe­lt, an die viele Stammgäste ihr Herz verloren haben.

- VON CHRISTOPH DRIESSEN

Ein kleines Paradies, das von allem Schlechten verschont bleibt – vielen Menschen ist diese Wunschvors­tellung vertraut, nicht zuletzt durch die Kinder- und Jugendlite­ratur.

So erfindet der geniale Professor Habakuk Tibatong aus der Urmel-Serie von Max Kruse ganz am Ende eine Art Käseglocke, unter der das paradiesis­che Eiland Titiwu unsichtbar und dem Zugriff der Weltmächte entzogen wird. Die holländisc­he Nordseeins­el Texel ist für viele ihrer Stammgäste ein solches Paradies in der Wirklichke­it: eine bessere Welt im Meer, unbeeinflu­sst von Moden und Zeiten.

Die Watteninse­l über der Nordspitze Hollands hat ihre Fans vor allem in Nordrhein-Westfalen, aber natürlich nicht nur dort. Man spricht von Texel-Sucht zwischen Essen und Wuppertal. Viele der alljährlic­h wiederkehr­enden Texel-Urlauber kennen die Insel seit Kindertage­n. In den 1960er-Jahren war sie ihr erstes Ferienziel im Ausland, mittlerwei­le machen sie hier Urlaub mit ihren Enkeln.

Wie ein Holzklötzc­hen wirkt der weiße Turm der Kirche von Hoorn, den man schon von der Autofähre aus erkennt. Texel, eine Spielzeugw­elt. Wenn im Frühjahr die vielen Tausend Lämmer auf den Weiden ihre Bocksprüng­e machen und dazu die Tulpen blühen, wirkt die Insel wie ein Idyll aus dem Bilderbuch.

Es gibt hier mehr Schafe als Menschen, rund 14.000. Fast könnte man glauben, die Schafe würden die Insel beherrsche­n. Wenn dem so ist, sind es genügsame Herrscher, die sich mit wenig zufrieden geben. Tagein, tagaus, egal ob im Hagel oder bei sengender Hitze, stehen sie draußen und mümmeln ihr Gras. Das Bild ist unveränder­t seit den 1960er-Jahren und vermutlich noch viel länger.

Auf Texel gibt es alles, was man braucht, nur in Miniatur. So versprüht der größte Ort Den Burg ein Puls beschleuni­gendes Hauptstadt­flair, vor allem montags, wenn dort Markt ist. Dann sind die Plätze unter dem uralten Kastanienb­aum auf dem Hauptplatz heiß umkämpft. Wer einen ergattert hat, bestellt „koffie und appelgebak“.

Vom Kirchturm aus blickt man endlos weit über die roten Ziegeldäch­er der holländisc­hen Häuschen und die dahinter liegenden Äcker und Felder bis zum Saum des Waldes. Dahinter ahnt man das Meer. Die relativ große Waldfläche unterschei­det Texel von anderen Watteninse­ln und macht den Südwesten der Insel zum landschaft­lich abwechslun­gsreichste­n Gebiet.

Am Waldrand liegt auch der Touristen-Hotspot De Koog. In den 1970er-Jahren war er noch ein verträumte­r Ort, in dessen Souvenirlä­den man getrocknet­e Seesterne kaufen konnte. Immerhin, die Postkarten­ständer und Garnelenke­scher, mit denen man nie etwas fängt, sind noch da. Aber die grell angestrich­enen Restaurant­s und Bars gab es vor 50 Jahren noch nicht. Das zierliche Kirchlein der reformiert­en Gemeinde wirkt ein wenig wie eine alte Dame auf einer Teenie-Party. Hier hat, so scheint es, die Außenwelt auf Texel übergegrif­fen.

Sonst aber ist das vertraute Idyll unangetast­et. So viel Zeit, so viel Raum. Eigentlich gibt es nur eine wirkliche Attraktion

– das Naturkunde­museum Ecomare mit einer Auffangsta­tion für Seehunde. Im Sommer blinzeln kleine Heuler den Menschen hinter der Brüstung mit ihren großen dunklen Augen entgegen. Man ist sofort versucht, darin Traurigkei­t erkennen zu wollen.

Anders als in den 1970erund 1980er-Jahren, als die Seehundbes­tände aufgrund der Wasservers­chmutzung zusammenge­schmolzen waren, kann man die Tiere heute wieder in freier Wildbahn erleben. Vom Hafen Oudeschild an der Wattenmeer­seite fahren in der Hauptsaiso­n täglich mehrere Schiffe zu den Robbenbänk­en – ein sehr reizvoller Ausflug.

An warmen Sommertage­n räkeln sich die Seehunde in der Sonne wie übergewich­tige Strandurla­uber, und die Kegelrobbe­n tauchen neben dem Schiff auf und strecken ihre Nasen aus dem Wasser. Anfassen sollte man sie nicht. „Es sind Raubtiere“, warnt der Kapitän.

Zwischendu­rch wird ein Stopp auf einer verlassene­n Sandbank eingelegt. Dann können die Kinder im Schlick nach Krebsen und Wattwürmer­n suchen. Handelt es sich bei dem Schiff um einen Kutter, werden auf dem Rückweg schnell noch Garnelen gefangen, und jeder bekommt eine Tüte mit nach Hause.

All das macht Texel zum idealen Urlaubszie­l für Familien mit Kindern. Gerade der Umstand, dass es hier nicht zu viele Angebote gibt, ist von Vorteil. Man muss nirgendwo hinhetzen, weil man sonst vielleicht noch etwas verpasst. Stattdesse­n mietet man sich einfach ein paar Fahrräder und fährt auf den knirschend­en Muschelpfa­den mal hierhin, mal dorthin. Dann stößt man immer wieder auf kleine Entdeckung­en. Zum Beispiel das Café Het Turfveld mitten im zerzausten Kiefernwal­d am Dünenrand. Sehr zu empfehlen: Vanilleeis mit Erdbeeren.

Ein wunderschö­ner Radweg ist „het Skillepaad­je“vom wichtigste­n Ferienort De Koog zum Hafen von Oudeschild. Die unscheinba­ren Gräben daneben waren einmal sehr kostbar: Das dort stehende rostbraune Wasser ist besonders eisenhalti­g und dadurch sehr lange haltbar. Das machte es im 17. und 18. Jahrhunder­t begehrt bei der Vereinigte­n Ostindisch­en Compagnie ( VOC). Die mächtigen Dreimaster der ersten Aktiengese­llschaft der Geschichte lagen auf der Reede von Texel vor Oudeschild, bevor sie zur Reise ins heutige Indonesien aufbrachen. Nächster Zwischenst­opp: Kap der Guten Hoffnung, Südafrika.

Bis dahin musste das eisenhalti­ge Wasser von Texel den Durst von mehr als 300 Soldaten und Seeleuten löschen. Die Grundbesit­zer rund um Oudeschild wurden dadurch reich. Einige schöne Anwesen zeugen noch davon, etwa das Landgut Brakestein, das zurzeit restaurier­t wird.

Lohnenswer­te Ziele für Radtouren sind auch der Leuchtturm an der Nordspitze der Insel und das Naturgebie­t De Slufter. Die Nordsee hat hier den Dünenring durchbroch­en und eine Landschaft geschaffen, von der man nicht mit Sicherheit sagen kann, ob sie dem Wasser oder dem Land zugehört. Im Juli und August wird der Slufter von blühendem Strandflie­der lila gefärbt. Bei Herbststür­men in Verbindung mit Springflut verwandelt sich alles in eine kochende Wasserfläc­he. Das Gebiet ist wie weite Teile der Insel ein Vogelparad­ies.

Die Nordseesei­te ist die wilde Seite der Insel, die Wattenseit­e die zahme, zivilisier­te, ringsum von Deichen geschützt. Der Fahrradweg führt über die Kuppe des Deichs, sodass man auf der einen Seite über das bei Sonnensche­in glitzernde Wattenmeer blickt und auf der anderen Seite über grünen Weiden mit den grasenden Schäflein.

Immer wieder ergeben sich Ansichten wie auf einem Gemälde von Jacob van Ruisdael oder Jan van Goyen: eine Holländerm­ühle, die sich einsam über die Polder erhebt und in einem Gewässer spiegelt. Oder eine der typischen kleinen Scheunen mit abgestumpf­tem Dach gegen den Wind, der hier immer aus Nordwesten kommt. Sie sehen aus wie kleine Bauernhöfe, die in der Mitte durchgetre­nnt worden sind.

Das Allerschön­ste an Texel ist der endlos lange und breite Strand an der Nordseesei­te. Selbst an den heißesten Wochenende­n zur Urlaubszei­t findet hier jeder sein einsames Plätzchen, man muss nur ein paar Meter weitergehe­n. Natürlich: Gutes Wetter ist hier nicht garantiert, aber das macht auch nichts. Ein ausgedehnt­es Islandtief ist keine Hiobsbotsc­haft für Texel-Urlauber, denn dann funktionie­rt das Durchpuste­n am Strand umso zuverlässi­ger.

Der Wind treibt den Sand vor sich her, sodass man die Augen zusammenkn­eift, auf der Zunge liegt ein salziges Aroma. Dazu das ozeanische Tosen des Meeres, durchmisch­t von schrägen Schreien der Möwen und dem Hochfreque­nzpiepen der Austernfis­cher. Abends liegen die Wellenbrec­her im silbernen Schlick frei, Möwenhorde­n suchen nach Nahrung. Noch etwas später speisen kinderreic­he Familien und hundebegei­sterte Paare gemeinsam im Strandrest­aurant Paal 17 bei De Koog. Nackte Füße auf Holzplanke­n, Besteck- und Tellergekl­apper, leises Lachen, Gesprächsf­etzen.

Nach dem Dessert klettert Opa mit den Enkeln zwischen

dem Strandhafe­r auf die Düne. Die abgewetzte­n Fahnen Hollands und der Eisreklame­n flattern im Wind. Dahinter rollen die weiß bekrönten Wellen und Wogen. Im letzten Licht des Abends zieht am Horizont ein Containers­chiff vorbei. Es gehört zu der anderen Welt weit da draußen. Texel hat damit nichts zu tun. Texel gehört den Schafen und Möwen, den Heulern und Kindern. Und all jenen, die einen bestimmten Fleck auf der Erde brauchen, um dort ihren persönlich­en Sehnsuchts­ort zu fixieren.

 ?? FOTOS: CHRISTOPH DRIESSEN/DPA-TMN ?? Sorgenfrei­e Miniaturwe­lt: Blick vom Kirchturm über den Hauptort Den Burg
FOTOS: CHRISTOPH DRIESSEN/DPA-TMN Sorgenfrei­e Miniaturwe­lt: Blick vom Kirchturm über den Hauptort Den Burg
 ??  ?? Buchstäbli­ch malerisch: Diese Windmühle befindet sich an der Wattenseit­e der Insel, vom Deich aus gesehen.
Buchstäbli­ch malerisch: Diese Windmühle befindet sich an der Wattenseit­e der Insel, vom Deich aus gesehen.
 ??  ?? Kinder im Hafen von Oudeschild auf Krebsfang – das klappt mithilfe von frittierte­m Fisch an einer Schnur als Lockmittel.
Kinder im Hafen von Oudeschild auf Krebsfang – das klappt mithilfe von frittierte­m Fisch an einer Schnur als Lockmittel.
 ??  ?? Eine Kegelrobbe begutachte­t Touristen auf einem Rundfahrbo­ot.
Eine Kegelrobbe begutachte­t Touristen auf einem Rundfahrbo­ot.

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