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Ein Relikt aus dunklen Zeiten

Betretungs- und Ausgehverb­ote sind in demokratis­chen Staaten nur in Ausnahmefä­llen erlaubt. Diktaturen nutzen dieses Mittel, um unliebsame Gruppen oder die eigene Bevölkerun­g zu unterdrück­en.

- VON MARTIN KESSLER

Im demokratis­chen Deutschlan­d ist die Ausgangssp­erre lange Zeit aus der Mode gekommen. Die Mehrzahl der Deutschen kann sich jedenfalls nicht erinnern, jemals vor der Corona-Pandemie auf Befehl der Regierung in den eigenen vier Wänden eingeschlo­ssen gewesen zu sein – von lokalen Unglücken oder chemischen Unfällen einmal abgesehen. In der Brockhaus-Enzyklopäd­ie von 1987 (19. Auflage) kommt der Begriff „Ausgangssp­erre“daher ebenso wenig vor wie in der aktuellen Online-Ausgabe.

Tatsächlic­h gab es vergleichb­are flächendec­kende Betretungs­und Ausgehverb­ote wie jetzt in der Corona-Krise in Deutschlan­d zuletzt nur kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Bewusst daran erinnern können sich nur Menschen, die deutlich älter als 80 Jahre sind. Sie wissen noch, dass die Straßen menschenle­er waren, als die Alliierten einmarschi­erten. „Über die Städte war die Ausgangssp­erre verhängt. Für einige Augenblick­e erstarrte alles“, schrieb der nachgebore­ne, inzwischen verstorben­e FAZ-Kulturchef Frank Schirrmach­er 1995, also 50 Jahre nach Kriegsende. Auch der spätere Bundespräs­ident Theodor Heuss vermerkte für Mai 1945 in seinen Tagebücher­n, dass das strikte Ausgangsve­rbot befolgt werden musste, das die örtlichen Kommandant­en – von 17 bis 7 Uhr, sonntags von 17.30 bis 6 Uhr – verfügt hatten.

Danach wurde die Ausgangssp­erre ein Fremdwort. Bis 1968 hatte die Bundesrepu­blik noch nicht einmal eine Notstandsg­esetzgebun­g. Und selbst bei Katastroph­en und Anschlägen wurden staatliche Zwangsmaßn­ahmen nur ganz dosiert eingesetzt. Nach dem Reaktorunf­all in Tschernoby­l, der Mutter aller Ausnahmezu­stände in Europa, wurden als einschneid­endste Maßnahmen einige Kinderspie­lplätze gesperrt und Pilze vom Markt genommen. In der Finanzkris­e reichte eine mündliche Garantie der Spareinlag­en durch Bundeskanz­lerin Angela Merkel und ihren Finanzmini­ster Peer Steinbrück, um einen Run auf die Banken zu verhindern.

Dabei waren die Deutschen zuvor Weltmeiste­r im Verhängen von Ausgangssp­erren. Die Nationalso­zialisten folgten gern dem Motto ihres geistigen Lehrers, des umstritten­en Staatsrech­tlers Carl Schmitt, der schon 1922 in seiner „Politische­n Theologie“schrieb: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezu­stand entscheide­t. Der Ausnahmefa­ll offenbart das Wesen der staatliche­n Autorität am klarsten.“Die Nazis zeigten ihre Macht – im Inneren wie in den besetzten Gebieten. Gerade in letzteren beschränkt­en sie die Bewegungsf­reiheit so stark, dass sie freie Bahn für ihre Menschheit­sverbreche­n hatten. „Die Ausgangssp­erren der Nazis richteten sich vor allem gegen bestimmte Gruppen, um gegen diese, namentlich die Juden, mit brachialer Gewalt vorzugehen“, meint der Historiker Christoph Cornelißen, der an der Universitä­t Frankfurt den Lehrstuhl für Neueste Geschichte leitet. Die Gettoisier­ung der Juden in vielen Städten gehört dahin. Denn dort galten strikte Ausgehverb­ote, um leichter kontrollie­ren zu können. Allerdings waren die Ausgangssp­erren nur eine von etwa 2000 Sonderbest­immungen.

Dem Autor unvergesse­n bleibt eine Geschichte seines Großvaters, der als Major der Wehrmacht im besetzten Reims in Frankreich die Ausgangssp­erre überwachen musste. Dabei griffen einmal seine Soldaten nachts einen Priester auf, der ohne Genehmigun­g unterwegs war. Dem Gottesmann drohte eine empfindlic­he Haftstrafe, die ihm der Großvater, ein gläubiger Katholik, aber zum Verdruss der Truppe erließ. Eine durchaus glaubwürdi­ge Geschichte, findet der Historiker Cornelißen. „In den

Bis 1968 hatte die Bundesrepu­blik noch nicht einmal eine Notstandsg­esetzgebun­g

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