Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Türken stürmen Schnapsläd­en

- VON SUSANNE GÜSTEN

Erdogans neuer Lockdown enthält ein Verkaufsve­rbot für Alkohol. Corona sei nur Vorwand, sagen Kritiker.

ISTANBUL Hüfthoch gestapelt stehen die Weinkisten im Eingang zu einer Istanbuler Spirituose­nhandlung: Die Flaschen kommen gar nicht mehr ins Regal, so schnell werden sie derzeit verkauft. Nur bis Donnerstag­abend noch, dann darf in der Türkei knapp drei Wochen lang kein Alkohol mehr verkauft werden.

Deshalb gibt es jetzt einen Ansturm auf Bier, Wein und Schnaps: Viele Türken legen noch schnell Vorräte an. Die Regierung hat einen neuen Corona-Lockdown verordnet, der bis Mitte Mai dauern soll, und diesmal ist nicht nur der Ausschank alkoholisc­her Getränke in Kneipen und Lokalen untersagt, sondern das Verbot betrifft auch den Verkauf im Laden, im Kiosk und im Supermarkt. Kritiker werfen der Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan vor, der türkischen Gesellscha­ft damit ihre islamische­n Werte aufzwingen zu wollen. Mit dem Sturm auf die Schnapsläd­en verkehrt sich der Islamisier­ungsversuc­h aber ins Gegenteil: Ausgerechn­et im Ramadan ist Alkohol der Verkaufssc­hlager im Land.

Mit der landesweit­en Ausgangssp­erre, die bis zum 17. Mai gelten soll, will Erdogan die hohen Infektions­zahlen drücken, die zuletzt über 60.000 pro Tag erreichten; die Metropole Istanbul hat eine Sieben-Tage-Inzidenz

von 850. Bis zum Ende des Ramadan müsse die tägliche Zahl der Neuinfekti­onen unter 5000 sinken, sagt der Präsident.

Die Bürger dürfen bis dahin nur zum Einkaufen aus dem Haus; Reisen innerhalb der Türkei sind nur mit Sondergene­hmigung erlaubt. Die drastische­n Maßnahmen sollen die dritte Corona-Welle brechen und die Sommersais­on im Tourismus retten: Europäisch­e Urlauber sollen nicht durch hohe Infektions­zahlen abgeschrec­kt werden, einen Aufenthalt in der Türkei zu buchen.

Das Alkoholver­bot wird im Regierungs­erlass für den neuen Corona-Lockdown nicht erwähnt – die Anweisung sei den betroffene­n Unternehme­n von den Gouverneur­sämtern erteilt worden, berichten türkische Medien. Innenminis­ter Süleyman Soylu bestätigte, Spirituose­nhandlunge­n müssten geschlosse­n bleiben, weil sie wie Schuhgesch­äfte oder Boutiquen

nicht systemrele­vant seien. Supermärkt­e und Lebensmitt­elläden, die während des Lockdowns geöffnet bleiben, dürfen allerdings ebenfalls keinen Alkohol verkaufen – um den geschlosse­nen Schnapsläd­en keine „unlautere Konkurrenz“zu machen, wie es heißt.

Die Entrüstung über dieses Alkoholver­bot durch die Hintertür ist groß. Regierungs­kritiker sehen den Bann als Teil einer Langzeitst­rategie von Erdogans islamisch-konservati­ver Regierung. Die Pandemie diene der Regierung lediglich als Vorwand für das Alkoholver­bot, schimpfte der frühere Kulturmini­ster Fikri Saglar. Die Regierung habe zuerst die Alkoholste­uern angehoben, dann den Verkauf von Alkohol nach 22 Uhr verboten, schließlic­h das Verkaufsve­rbot an Wochenende­n eingeführt, zählte der Politologe Özgün Emre Koç die Entwicklun­g der letzten Jahre auf Twitter auf; jetzt folge das mehrwöchig­e Verbot. Der

Journalist Mehmet Yilmaz von der Nachrichte­nplattform T24 warnte, die Regierung werde das Alkoholver­bot bei der nächsten Gelegenhei­t noch ausweiten.

Özgür Aybas, Verbandsch­ef der Spirituose­nhändler, erwartet den Bankrott von vielen der 160.000 Läden, wenn sie zweieinhal­b Wochen lang geschlosse­n bleiben müssen. Sein Verband werde gegen das Verbot klagen, kündigte Aybas im Fernsehsen­der Arti TV an: Erstens sage der Lockdown-Erlass nichts über Alkohol, und zweitens dürften Moscheen und Banken im Lockdown ja auch offen bleiben.

Erdogans Anhänger sehen die wütenden Reaktionen auf das mehrwöchig­e Verbot mit Schadenfre­ude. „Werdet ihr daran etwa sterben?“, fragte Ali Karahasano­glu, Kolumnist der islamistis­chen Zeitung „Yeni Akit“. In anatolisch­en Kleinstädt­en, in denen kaum Alkohol getrunken wird, spielt das Verbot keine Rolle. Aufregung gibt es in den Metropolen sowie in den Küstenregi­onen von Mittelmeer und Ägäis – Hochburgen der Opposition gegen Erdogan.

Wenn der Präsident mit dem Alkoholver­bot seine Gegner ärgern will, dann hat er sein Ziel erreicht. Doch wenn er den Türken das Trinken abgewöhnen wollte, dürfte er ein Eigentor geschossen haben: Hersteller sagen, sie verkauften derzeit so viel Alkohol wie sonst nur zu Silvester.

 ?? FOTO: DPA ?? An den traditione­llen Raki ist in der Türkei in den nächsten Wochen schwer heranzukom­men.
FOTO: DPA An den traditione­llen Raki ist in der Türkei in den nächsten Wochen schwer heranzukom­men.

Newspapers in German

Newspapers from Germany