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Lady Lazarus

Die 74 Jahre alte Marianne Faithfull wäre 2020 fast an Covid gestorben. Nun veröffentl­icht die britische Sängerin, die einst mit Mick Jagger liiert war, eine Platte, auf der sie romantisch­e Gedichte liest. Das Album ist ein Triumph.

- VON PHILIPP HOLSTEIN FOTO: ROSIE MATHESON/DPA

Diese atemlose Stimme ist schartig und voller Kerben, und wer ihr zuhört, achtet womöglich gar nicht so sehr auf die Texte, die sie spricht, sondern schweift ab zu den Geschichte­n, die diese Stimme ja immer auch zum Klingen bringt. Jene aus dem Sommer 1969 etwa, als Marianne Faithfull mit ihrem damaligen Freund Mick Jagger in einem Hotel in Sydney residierte, zu viele Schlaftabl­etten nahm und bewusstlos wurde. Sie driftete ins Koma, erzählte sie später. Und in diesem Transit-Zustand habe sie Brian Jones getroffen, den Gründer der Rolling Stones, der erst wenige Tage zuvor in seinem Pool ertrunken war. Er soll sie gebeten haben, zu ihm zu ziehen, für immer, aber das wollte sie dann doch nicht. Nach sechs Tagen wachte sie auf.

Marianne Faithfull lebt, das ist ein großes Glück; die 74-Jährige veröffentl­icht eine neue Platte, und das ist eine Sensation. 2020 erkrankte sie so schwer an Covid, dass die Ärzte sie bereits aufgaben. Sie kämpfte, und damit hat sie Erfahrung. Sie überstand einst Heroinsuch­t, Obdachlosi­gkeit, Krebs und eine Infektion nach einer Hüft-OP. Sie litt an Bulimie, wollte sich umbringen, und nun macht ihr Long Covid zu schaffen: Sie ist müde, ein Atemgerät steht in ihrer Nähe. Sie ist die Lady Lazarus des Rock.

„She Walks In Beauty“heißt die neue Platte, und der Titel taugt als Motto für ihr Leben. Sie kann nicht mehr singen, deshalb spricht sie nur noch. Sie hat ihre Lieblingsg­edichte vertont, Lyrik der englischen Romantiker, Verse, die sie als Schülerin lieben gelernt hat und die sie durch das Leben trugen. Sie deklamiert die Gedichte nicht, sie spricht sie einfach mit dieser einerseits arglosen und anderseits völlig durchgeroc­kten Stimme. Mit dieser Jahrhunder­tstimme. „A mind at peace with all below / A heart whose love is innocent!“, heißt es bei Lord Byron.

Ihre Mutter war die Großnichte von Leopold von Sacher-Masoch, Autor des Skandalrom­ans „Venus im Pelz“, dem wir den Begriff „masochisti­sch“verdanken. Faithfull hatte Literatur studieren wollen, aber dann besuchte sie eine Party der Rolling Stones, und dort entdeckte sie der Manager der Band, Andrew

Loog Oldham. Als „Angel with big tits“bezeichnet­e er sie und gab ihr einen Plattenver­trag. Die Episode zeigt, wie sexistisch das Business war und wie übel Männer Faithfull mitgespiel­t haben. Jagger und Richards schrieben ihr den Song „As Tears Go By“, sie sang ihn, als wäre sie abwesend. Ihre Stimme klang schon damals, als spreche sie von anderswo, und sie machte damit die halbe Welt verrückt. Jagger war eine Zeit lang ihr Freund. Sie inspiriert­e die Stones zu „You Can’t Always

Get What You Want“und „Wild Horses“. Sie schenkte Jagger das Buch „Der Meister und Margarita“, das ihm die Idee zu „Sympathy For The Devil“lieferte. Sie schrieb den Text für „Sister Morphine“, aber die Credits gönnten die Stones ihr erst in den 90er-Jahren.

Marianne Faithfull wurde zunächst nur als Nebendarst­ellerin in den Heldengesc­hichten der Jungs wahrgenomm­en. Einen legendären Auftritt hatte sie, als 1967 die Drogenhöhl­e von Keith Richards ausgehoben wurde. Faithfull trat aus dem Haus, lediglich mit einem Teppich bekleidet. Die Episode wurde zum Bild für „Sex, Drugs & Rock and Roll“. Dabei war es in Wirklichke­it so, dass Faithfull gerade aus der Badewanne stieg, als die Razzia begann.

Nach der Trennung von Mick Jagger streifte sie ohne Wohnsitz durch London, sie verlor das Sorgerecht für ihren Sohn Nicholas aus einer früh geschlosse­nen Ehe. Erst 1979 kehrte sie eindrucksv­oll zurück: Das Album „Broken English“ist ein Meilenstei­n der alternativ­en weiblichen Rockgeschi­chte.

Seither ist jedes Album irgendwie eine Comeback-Platte. Faithfull wurde von einer jüngeren Generation von Künstlern als Pionierin entdeckt, Musiker wie Damon Albarn, Jarvis Cocker und PJ Harvey arbeiteten mit ihr. Auf der neuen Platte sind es Nick Cave, Brian Eno und vor allem Warren Ellis, die die Musik arrangiere­n, zu der Faithfull Verse von Shelley, Keats, Wordsworth und Tennyson spricht. Und eben das ist das Gute an diesem Album: Faithfull bringt die Texte vor, wie sie sie versteht. Sie macht keine Geisterbes­chwörung daraus, sondern holt sie unprätenti­ös in unseren Alltag. Sie beglaubigt deren Wirkung durch ihre Biografie. Sie durchwirkt sie mit Menschlich­keit.

Faithfulls Manager stieß das Projekt an und rechnete nicht damit, dass sein Schützling die Veröffentl­ichung erleben würde, so schlecht ging es ihr. Warren Ellis reicherte die Sprachaufn­ahmen während des Lockdowns in seinem Pariser Studio mit elektronis­chen Flächen und Vogelgezwi­tscher an. Manche Arrangemen­ts sind sehr schön, manche ein bisschen kunstgewer­blich. Im Mittelpunk­t steht aber ohnehin diese Stimme.

Marianne Faithfull lebte lange in Paris, nun ist sie zurückgeke­hrt nach London, weil sie näher bei ihrem Sohn und dessen Familie sein möchte. „She Walks In Beauty“ist in vielerlei Hinsicht Dokument einer Heimkehr. Außerdem Ausdruck ungeheuren Lebenswill­ens. Ein Triumph. Faithfull hat angekündig­t, dass das nun ihre letzte Platte sei. Sie liest darauf „Ozymandias“von P. B. Shelley.

Darin heißt es: „Look on my Works, ye Mighty, and despair!“

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Marianne Faithfull daheim in London.

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