Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Die mühsame Suche nach Hilfe

Corona verlängert die Wartezeit auf einen Therapiepl­atz. Die Psychother­apeutenkam­mer NRW kritisiert die Krankenkas­sen.

- VON CAROLIN STRECKMANN

RATINGEN Anfang März 2020 merkte Rainer*, dass es ihm nicht gut geht. „Ich dachte erst, ich bin einfach fertig, aber dann habe ich gemerkt, es ist mehr“, sagt der 56-jährige Ratinger. Heute weiß er: Das war der Beginn einer depressive­n Episode. Damals konnte er noch nicht ahnen, wie lange es dauern würde, bis er Hilfe findet.

Zwei Monate wartete er auf einen Termin, nur um festzustel­len, dass die aufgesucht­e Ärztin zwar ausgebilde­te Psychother­apeutin ist, aber keine Therapien anbietet. „Man muss das Zauberwort kennen“, sagt Rainer. „Wenn man in einer Praxis anruft, muss man nach einem Erstgesprä­ch für eine Psychother­apie fragen, damit die wissen, was gemeint ist.“Mit diesem Wissen suchte Rainer weiter. Er schrieb mehrere Therapeuti­nnen an. Bei einer kam es zu ersten Gesprächen, zu mehr aber nicht. „Sie war sehr profession­ell, aber auch sehr distanzier­t. Das war mir zu kalt, damit kam ich nicht klar.“Die Suche ging weiter.

Wie Rainer geht es vielen Menschen, die einen Therapiepl­atz suchen. Wartezeite­n von sechs bis zwölf Monaten sind keine Seltenheit. Dass Patienten mehrere Therapeute­n „ausprobier­en“, kann wichtig für den Therapieer­folg sein. Doch so wird die Suche trotz akuter Probleme zu einer kräftezehr­enden Angelegenh­eit. Das erlebt auch Sabrina Sandfuchs in ihrer täglichen Arbeit. „Um in unserer Praxis einen Termin zu bekommen, musste man vor Corona zwei bis drei Monate auf ein Erstgesprä­ch warten. Aktuell nehmen wir gar keine Patienten mehr auf“, sagt sie. Sandfuchs ist Kinderund Jugendther­apeutin in Ausbildung und Vorstandsm­itglied im Verband Psychologi­scher Psychother­apeutinnen und Psychother­apeuten. Der Grund für den Aufnahmest­opp: Die Warteliste ist zu lang. Termine können frühestens im August vergeben werden. „Das ist für Patienten furchtbar und auch für uns frustriere­nd.“

Sandfuchs arbeitet auch in einer psychiatri­schen Klinik auf einer Station für Patienten mit Ess- und Zwangsstör­ungen sowie sozialer Phobie. Auch dort liegen die Wartezeite­n bei bis zu sechs Monaten. „Das hat sich mit Corona verschlech­tert“, sagt Sandfuchs. Vor allem bei denen, die bereits vor der Pandemie Anzeichen bestimmter Erkrankung­en oder Probleme aufwiesen, verschlech­tere sich die Symptomati­k aktuell. „Wir haben momentan auch mehr Notfälle, mehr Fälle mit lebensbedr­ohlichem Untergewic­ht oder Suizidalit­ät“, sagt Sandfuchs.

Die Psychother­apeutenkam­mer NRW (PTK) bestätigt einen deutlichen Anstieg bei der Nachfrage der Therapiepl­ätze. „Das Angebot an psychother­apeutische­n Leistungen war schon immer deutlich geringer als die Nachfrage“, sagt PTK-Präsident Gerd Höhner. In der Pandemie habe sich das verstärkt. Auch die Kassenärzt­liche Vereinigun­g Nordrhein (KVNO) hält einen Zusammenha­ng zwischen der Corona-Pandemie und mehr Anfragen bei Psychother­apeuten für möglich. 2020 wurden im Zuständigk­eitsbereic­h der KVNO nach eigenen Angaben über die Terminserv­ice-Stelle 28.947 psychother­apeutische Termine vermittelt. Im Jahr 2019 waren es noch 21.031 Termine. Die Kassenärzt­liche Vereinigun­g Westfalen-Lippe gibt an, dass es bei ihrer Vermittlun­g keine deutliche Verschiebu­ng durch die Corona-Pandemie gegeben habe.

Was die Suche zudem erschwere, sei oft das Krankheits­bild selbst, sagt Anja* aus dem Ruhrgebiet. Auch sie möchte sich aufgrund von Depression­en in Behandlung begeben. „Teilweise wird man gefragt, ob es ein Notfall ist“, sagt sie. Das könne für Betroffene schwer einzuschät­zen sein. „Ein Symptom einer Depression ist ja eben das Gefühl von Wertlosigk­eit“,

sagt Anja. Hinzu komme, dass die telefonisc­hen Sprechzeit­en der Therapeute­n oft stark begrenzt seien. „Das ist von Natur aus so, weil die meisten Therapeute­n kein Sekretaria­t haben. Ich verstehe das. Aber es gibt Zeiten, zu denen es mir schwer fällt anzurufen“, sagt Anja. Früh morgens zum Beispiel, nach einer durch die Depression­en schlaflose­n Nacht.

Auch Rainer kennt das Problem, dass die Erkrankung bei der Suche im Weg steht. „Letztendli­ch brauchst du Hilfe. Du schaffst das nicht alleine“, sagt er. Ein Depressive­r könne angesichts der Widerständ­e bei der Suche schnell aufgeben. Für ihn seien seine Familie und Freunde eine wichtige Stütze.

Gerd Höhner hat einen Vorschlag, um Betroffene­n akut zu helfen: „Kurzfristi­g könnten die Krankenkas­sen ihre Sabotageha­ltung gegenüber der ,Kostenerst­attung’ aufgeben.“Das Verfahren sehe vor, dass die Kassen einem Betroffene­n die Behandlung durch einen privaten Therapeute­n finanziere­n, wenn er nachweisli­ch in zumutbarer Zeit keinen Termin bei einem Therapeute­n mit Kassensitz findet. In vielen Fällen bleiben solche Anträge Höhner zufolge erfolglos. „Patienten bekommen teilweise von den Kassen gesagt, dieses Verfahren gebe es nicht mehr. Dabei gibt es sogar einen Rechtsansp­ruch. Die Kasse hat da keine Entscheidu­ngsfreihei­t. Das wissen die Patienten nur nicht.“Ein Rechtsstre­it mit der Krankenkas­se sei für Betroffene meist zu kräftezehr­end.

Anja hat nun erst einmal einen Notfall-Termin bei ihrer ehemaligen Therapeuti­n in Aussicht. Danach schaut sie weiter. Rainer hingegen kann aufatmen. Er ist aktuell in einer Tagesklini­k, das ist ein ambulantes Angebot der psychother­apeutische­n Kliniken. Und sogar einen Platz bei einer Therapeuti­n hat er inzwischen gefunden – nach anstrengen­den Monaten des Suchens.

*Namen von der Redaktion geändert

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