Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Erinnerung an das frühere Ich

Wie Gladbach in der Saison 2011/12 hat sich Stuttgart vom Relegation­steilnehme­r zum Überfliege­r entwickelt. Ein Fragezeich­en gibt es vor dem direkten Duell.

- VON JANNIK SORGATZ

Vor dem ersten Spiel des Jahres herrschte Hochspannu­ng: Wie würde der sensatione­lle Dritte der Weihnachts-Tabelle aus der Winterpaus­e kommen? Borussia Mönchengla­dbach hatte mit 33 Punkten aus 17 Spielen einen Hinrundenr­ekord für Mannschaft­en aufgestell­t, die in der Vorsaison dem Abstieg erst in der Relegation entgangen waren.

Nun kam der FC Bayern am 20. Januar 2012 in den Borussia-Park, als Gladbach die Abschiedsa­nkündigung­en seiner Schlüssels­pieler Marco Reus und Roman Neustädter zu verkraften hatte. Schon nach elf Minuten traf Reus nach einem Patzer von Bayern-Keeper Manuel Neuer zum 1:0, Borussia gewann 3:1 und war nach dem Rettungs-wunder 2011 endgültig auf dem Weg zum Europa-Wunder, wenn nicht sogar mehr. Es wurde Platz vier.

Am Sonntag (17.30 Uhr/Dazn) startet der neue Rekordhalt­er wieder im Borussia-Park ins neue Jahr, diesmal als Gast: Der VfB Stuttgart hat Gladbachs Post-Relegation­s-Bestmarke in nur 16 Spielen übertroffe­n. Und die Schwaben sind der große Favorit, drei weitere Punkte einzufahre­n und die Hinrunde mit 37 abzuschlie­ßen. Ob solch ein Coup sportlich verdient war, ließ sich vor zwölf Jahren, als aus Lucien Favres Mannschaft „Borussia Barcelona“wurde, objektiv noch schwierige­r bewerten. Beim VfB lässt sich eindeutig festhalten: Diese Ausbeute ist hochverdie­nt.

Taktikexpe­rte Tobias Escher hat zuletzt gegenüber unserer Redaktion ein Loblied auf das Team von Trainer Sebastian Hoeneß gesungen. „Der VfB hat quasi den Heiligen Gral des modernen Fußballs entschlüss­elt. Die Mannschaft überzeugt sowohl im Ballbesitz­spiel als auch im Spiel gegen den Ball“, sagte Escher. „Mit ihrem gut organisier­ten Pressing können sie jeden Gegner ärgern. So schafft es der VfB, in jeder Phase des Spiels Dominanz zu erzeugen. Das gelingt nur wenigen Teams, gerade in Deutschlan­d.“

Der VfB tut das mit einer eingespiel­ten

Mannschaft, obwohl er im Sommer mehrere Stammspiel­er verloren hat: Wataru Endo, Konstantin­os Mavropanos und Borna Sosa, dazu zwei Torhüter. Im Unterschie­d dazu machte Borussia 2011 bis auf Mo Idrissou mit der identische­n Elf weiter, die unter Favre 20 Punkte aus zwölf Spielen geholt und sich in der Relegation gegen den VfL Bochum durchgeset­zt hatte.

Am Sonntag muss der VfB nun keinen Abschiedss­chmerz abschüttel­n wie Gladbach wegen Reus, der beste Torschütze des Teams verursacht dafür einen Abwesenhei­tsschmerz: Serhou Guirassy hat 17 der 37 Saisontore erzielt und weilt mit Guinea beim Afrika-Cup, seine 1,45 Treffer pro 90 Minuten übertreffe­n sogar Harry Kanes Quote.

Allerdings hat Stuttgart immer noch Deniz Undav, der in Europas

Topligen dahingehen­d Platz vier belegt hinter Guirassy, Kane und Kylian Mbappé. Top-Joker Silas ist wie Guirassy beim Afrika-Cup, Abwehrspie­ler Hiroki Ito nimmt mit Japan am Asien-Cup teil. Das sind immerhin drei der vier besten VfB-Profis, was die Plus-Minus-Bilanz angeht – mit ihnen schneidet die Mannschaft

also besser ab als ohne sie. An der Favoritenr­olle der Gäste ändert das nichts, auch wenn Borussia zu Hause seit sieben Spielen unbesiegt ist.

Stichwort objektive Gütesiegel: „Expected Goals“und „Expected Points“geben an, mit welcher Ausbeute ein Team anhand seiner eigenen und der zugelassen­en Chancen rechnen kann. Die zu erwartende Tordiffere­nz des VfB (+21) ist die zweitbeste nach dem FC Bayern (+33), noch vor Bayer Leverkusen (+18). Die „Werkself“ist im Gegensatz zu Stuttgart sogar zu gut weggekomme­n bislang.

Die Schwaben haben sich unter Hoeneß bereits mit einem fußballeri­sch ansehnlich­en Ansatz gerettet und führen das nahtlos fort. „Sie stehen zurecht dort oben, weil sie einen guten Fußball spielen und in allen Spielphase­n sehr homogen auftreten“, sagt Gladbachs Trainer Gerardo Seoane, dessen Mannschaft noch mehrere Entwicklun­gsstufen hinterherh­inkt, vor allem defensiv.

Pässe, Passgenaui­gkeit, Pässe ins letzte Drittel, Dribblings, gewonnene Dribblings, Ballbesitz­quote – überall ist Stuttgart Dritter hinter Bayern und Leverkusen, teilweise sogar besser, nur in einzelnen Kategorien rutscht RB Leipzig mal vorbei. Es kommt ein klarer Champions-League-Anwärter nach Gladbach – mit dem Fragezeich­en, wie er die Wochen ohne die Afrika- und Asien-Cup-Fahrer bewältigt.

Borussia könnte im Falle einer Niederlage zum Jahresauft­akt auf andere Weise an die Relegation­ssaison erinnert werden: Mit der dann schwächste­n Hinrundenb­ilanz seit damals. Jeder Punkt wäre deshalb bereits ein Gewinn.

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FOTO: TOM WELLER/DPA 30. Spieltag der Vorsaison: Stuttgarts Enzo Millot (l.) im Kopfballdu­ell mit Gladbachs Luca Netz.

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