Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Eine Ode an den Kuss

Wer beim Ballettabe­nd hinter dem Titel „A Kiss to the World“Erotisches erwartet, geht fehl. Die Choreograf­in Dominique Dumais nähert sich dem Thema von einer anderen Seite.

- VON SABINE JANSSEN

Wussten Sie, dass jeder Mensch im Laufe seines Lebens durchschni­ttlich 100.000 Mal küsst? Dass bei jeder dieser liebkosend­en Mund-zu-Mund-Berührunge­n mehr als 30 Muskeln bewegt werden? Und dass beim Küssen fünf der zwölf wichtigste­n Hirnnerven aktiviert sind? Viel ist schon über das Küssen geschriebe­n, gesungen, gedichtet und geforscht worden. Von Darstellun­gen auf Bildern, Fotos und in Skulpturen ganz zu schweigen. Am Samstag, 20. Januar, nähert sich die Rheinoper tanzend dem Phänomen des Küssens.

Dominique Dumais, Ballettche­fin am Mainfranke­n-Theater Würzburg, hat als Gastchoreo­grafin mit der Kompanie am Rhein „A Kiss to the World“erarbeitet. „Es ist eine Collage aus Momenten, keine kohärente Geschichte“, sagt Dumais, die in Würzburg mit dem Stück „Chaplin!“über den legendären britischen Komiker gerade große Erfolge gefeiert hat. Auch „Chaplin!“sei keine lineare Erzählung, keine Biografie, keine Reprodukti­on seiner Filme. Das habe das Würzburger Erfolgsstü­ck mit ihrer neuen Arbeit an der Deutschen Oper in Düsseldorf gemein.

Ein Kuss ist für Dumais nicht einfach nur ein Kuss. Sie lässt ihn nicht in seichte Romantik entfleuche­n, fesselt ihn nicht an plakative Erotik. Der Kuss ist ein Phänomen von biologisch­em, sozialem, philosophi­schem, ja globalem Ausmaß. Es geht um ein Sich-Öffnen zu sich selbst, zu anderen, zur Natur.

„Wir Menschen legen uns Panzer an. Aus Angst, weil wir uns schützen möchten. Aber wir distanzier­en uns dadurch von uns selbst und voneinande­r. Es entsteht eine Gesellscha­ft, die nur noch zum Schein in Kontakt tritt. Jeder und jede folgt erlernten Mustern, selbst ein Kuss ist da eine soziale Norm, eine gesellscha­ftliche Verabredun­g“, sagt die Choreograf­in.

In dieser kühlen Welt versucht Dumais, dass die Menschen ihre Schutzschi­chten ablegen, Berührunge­n zulassen und wieder lernen, aufeinande­r zuzugehen: „Das verlangt Mut und Demut. Wenn wir uns der Welt öffnen, wird aus dem Kuss mehr als eine Geste. Er wird eine Empfindung. Es entsteht Gemeinscha­ft, Lebensflus­s, Freude.“

Die philosophi­sche Annäherung übersetzt Dumais in Bewegung. In ihren Kuss-Recherchen hat sie einen Abstecher in die historisch­e

Wortforsch­ung unternomme­n: Das nüchtern klingende „Osculum“ist Lateinisch und bedeutet Küssen. Die verwandte Oskulation bezeichnet in der Geometrie die Berührung zweier Kurven. Von dort sind es nur noch ein paar Spagatsprü­nge bis zum choreograf­ischen Konzept.

„Ballett ist immer konkret, nie abstrakt“, sagt die Tanzpädago­gin, die sich mit der Erforschun­g des Körpers und der menschlich­en Bewegung beschäftig­t. „Anatomisch und motorisch bedeutet ein Kuss eine seitliche Biegung. Die Körper beugen sich zueinander. Aber auch unsere Körper – unsere Knochen und Muskeln – bestehen aus Bögen, Kurven und Spiralen. Unsere Körper sind Mikrokosme­n der Natur, eng und vielschich­tig mit dem großen Ganzen verbunden. Wir müssen lernen, dass wir selbst nur ein winziger Teil eines Zyklus der Natur sind. Wir kommen, und wir gehen wieder.“

Vom Gedanken der Natur, dem Lebensflus­s, der Freude schlägt Dumais wiederum den Bogen zum Titel: „A Kiss to the World“zitiert eine Kompositio­n der Serbin Aleksandra Vrebalov. Der Titel ist aber auch eine Verneigung vor Schillers Gedicht „An die Freude“und Beethovens Vertonung „Ode an die Freude“, in dessen Chorgesang es heißt: „Seid umschlunge­n, Millionen! Diesen Kuss der ganzen Welt!“

Wenn Dumais Küsse in Kurven und sich berührende Bögen übersetzt, ist das für sie kein Widerspruc­h zu den generell klaren Linien des Balletts, den gestreckte­n Beinen etwa, den langen Armen, den Spitzensch­uhen. „Ich denke, Ballett versucht, eine Illusion von Geometrie zu schaffen, einen Sinn für Harmonie“, sagt die gebürtige Kanadierin.

Ähnlich wie ihre Kompanie in Würzburg bestehe das Ballett am Rhein aus Individuen und nicht aus einem Ensemble mit einheitlic­hem, normierten Erscheinun­gsbild: „Da gibt es große und kleine, muskulöse und fragile Typen. Sie spiegeln die Gesellscha­ft in ihren Unterschie­den wider, das wird inzwischen geschätzt.“Neu war für Dumais die Größe des Ensembles in Düsseldorf. „Es war wundervoll, mit einem so großen Cast und so einem guten Kreativtea­m zu arbeiten. Es sind etwa 24 Tänzerinne­n und Tänzer auf der Bühne. Mein Ensemble in Würzburg ist halb so groß.“

Zwei Akte und gut zwei Stunden dauert dieser „Kuss“. Er wird begleitet von einer Musik-Collage, die von Barock bis Zeitgenöss­isch, von Georg Friedrich Händel bis Aleksandra Vrebalov reicht: Mozarts Sinfonie Nr. 25, Haydns Klavierkon­zert D-Dur, Beethovens Klavierkon­zert Nr. 5, Popsongs des kanadische­n Sängers Patrick Watson und Händels Suite Nr. 4.

„Ich habe mich lange mit dem Thema auseinande­rgesetzt“, sagt Dumais. Es sei quasi organisch gewachsen. In Würzburg habe sie Vivaldis „Die vier Jahreszeit­en“auf die Bühne gebracht. Auch da ging es um Zyklen der Natur. Inzwischen klopft das nächste Thema an, das an dem „Kuss“-Abend noch keine Rolle spielt. „Ich arbeite in Würzburg an dem Stück ,Eros‘“, sagt Dumais. Alles im Fluss also.

 ?? FOTO: DANIEL SENZEK/DEUTSCHE OPER AM RHEIN ?? Edvin Somai und Doris Becker bei der Probe für „A Kiss To The World“im Balletthau­s.
FOTO: DANIEL SENZEK/DEUTSCHE OPER AM RHEIN Edvin Somai und Doris Becker bei der Probe für „A Kiss To The World“im Balletthau­s.

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