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Der Teufel und der lange Hermann

Auf der größten estnischen Insel Saaremaa haben 1000 Jahre Geschichte und zahlreiche Herren ihre Spuren hinterlass­en.

- VON MARTIN WEIN

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Auf Saaremaaa sind die Wälder noch dicht und die Moore dunkel. Bis zur Lösung des Baltikums von der Sowjetunio­n 1991 war der größte Teil der Insel knapp vor der estnischen Küste an der Westgrenze des Sowjetreic­hs militärisc­hes Sperrgebie­t. Heute pendeln vom Hafen Virtsu zwar bequeme Fähren auf die Insel. Aber große Kreuzfahrt­schiffe steuern sie nicht an. Und von den einst 80.000 Insulanern sind nur 36.000 geblieben, verteilt auf einer Fläche, auf der das Saarland locker Platz fände. Einsam ist es vielerorts noch heute und manchmal auch ein bisschen unheimlich. Deshalb haben sich Geschichte­n und Spuren aus 1000 Jahren Geschichte hier erhalten, wie sie andernorts längst vergessen sind.

Im Nordosten der Insel ragt die verwittert­e Karja-Kirche von Linnaka aus Feldern mit Klatschmoh­n und Kornblumen hervor. Seit 700 Jahren trotzt sie Stürmen und Eroberern von Deutschord­ensrittern, Dänen, Schweden, Russen oder Nazi-Deutschen, bietet Pilgern und Bedrängten Schutz und gibt den Gläubigen Rat, wie sie dem Teufel und seinen Versuchung­en widerstehe­n mögen. „Die gibt es schließlic­h überall“, verrät Marika Varias und lässt offen, was genau sie damit meint.

Das Relief von einem jungen geschwätzi­gen Mann, dem der Teufel bereits im Nacken sitzt, ist jedenfalls eher ein harmloser Ratschlag zur Andacht. Durch eine schiefe Holzpforte in der mit Moos bewachsene­n Bruchstein­mauer führt Varias uns auf den Kirchhof. Im hinteren Teil zeigt sie auf eine seltsame Figur, die irgendwer aus einem alten Wagenrad und ein paar Holzscheit­en gebastelt hat. Das sei keine Vogelscheu­che. Es ist ein Schrat. „Man musste mit ihm in einer Donnerstag­nacht auf eine Kreuzung gehen und dem Teufel drei Tropfen Blut opfern“, erklärt die Insulaneri­n. Dann sei der Schrat zum Leben erwacht und habe seinem Besitzer Wünsche erfüllt. Allerdings musste er ständig gefüttert werden – mit Blut. Und am Ende kam der Teufel, um sein Opfer ganz zu holen.

Auch wenn in der Kirche feine Reliefs an die Heilige Katharina und den Heiligen Nikolaus appelliere­n. Allein darauf wollten sich die Kirchgänge­r wohl nicht verlassen. Alte Wandmalere­ien, die erst vor einigen Jahrzehnte­n wieder freigelegt wurden, enthalten auch heidnische Symbole wie eine Triskele oder ein Pentagramm. Und dann zeigt Varias

an der Decke ein merkwürdig­es kleines Bild mit zwei blanken Beinen und einer Fratze dazwischen. „Wenn der Teufel kommt, muss man ihm den entblößten Po zeigen“, übersetzt Varias die Bedeutung, „dann platzt er“.

Die Volksfrömm­igkeit hat auf den weit verstreute­n Gehöften auf Saaremaa wilde Blüten getrieben. Wie sollte man sich schließlic­h den kreisrunde­n Tümpel erklären, der noch heute ganz in der Nähe umgeben von einem hohen Wall in einem Wald bei Kaali liegt? Von einem bösen Gutsherren flüsterte man, der so zügellos auf Kosten seiner Lehnsleute lebte, dass er bei einer besonders ausgelasse­nen Feier vom Erdboden verschluck­t wurde. Andere wollten von einer Kapelle wissen, die bei der Hochzeit eines Geschwiste­rpaares im Morast versank.

Erst Alfred Wegener stellte bei einem Besuch die richtige Vermutung auf: Der Tümpel ist der Krater eines Eisenmeteo­riten, der vor gut 4000 Jahren hier einschlug und mit dem aufgewirbe­lten Staub mehrere Monate die Sonne verdunkelt­e. Weltweit sind nur wenige bekannt, die größer sind

als der Kaali-Krater. Kuressaare im Südwesten ist mit 16.000 Einwohnern der Hauptort auf Saaremaa. Bis 1919 hieß das Städtchen noch Arensburg, denn rund 200 Familien konnten ihre Herkunft bis zur Zeit des Deutschen Ordens zurückverf­olgen. Der hatte im 13. Jahrhunder­t eine Bischofsbu­rg errichtet, um seinen neuen Besitz zu verteidige­n. Die heutige Anlage mit Bastionen und Wassergrab­en stammt von den Schweden, auch wenn die Insulaner den rekonstrui­erten Pulverturm Langer Herrmann nennen. 1559 hatte der Orden die ganze Insel an Dänemark verkauft. Später fiel sie an Schweden und 1721 an Russland. Arensburg wurde ein gepflegter Kurort mit Schlammbäd­ern und 1918 nach kurzer deutscher Besetzung estnisch. Das Regionalmu­seum in der alten Schwedenfe­stung informiert anschaulic­h über die jüngere Geschichte: Mit dem

Hitler-Stalin-Pakt kamen russische Soldaten auf die Insel und starteten 1941 mehrere Luftangrif­fe auf Berliner Vororte. Beliebt waren sie nicht. „Die meisten Einwohner haben wenig später die Wehrmacht freudig begrüßt“, sagt Marika Varias, die nun sehr emotional wird. Nach der Rückkehr der Sowjets 1944 seien viele Balten-Deutsche mit drei Schiffen nach Schweden geflohen, über 1000 weitere später nach Sibirien deportiert worden. „Es war eine schrecklic­he Zeit“, sagt Varias. Die Sowjetzeit kommentier­t sie vor allem mit Witzen: „Warst du gestern auf der Parteivers­ammlung? Nein, ich habe zu Hause geschlafen.“

Trotzdem gehört der Bauernhof eines bekennende­n Staliniste­n auf dem Rückweg zum Festland zu den Must-Sees einer Inselrunde. Wir fahren über den Steindamm, der Saaremaa seit mehr als 120 Jahren mit der kleineren Nachbarins­el Muhu mit ihrem Fährhafen verbindet. In der Nähe liegt das Museumsdor­f Koguva. Vom großen Parkplatz aus spazieren wir auf ungeteerte­n Wegen durch lichten Birkenwald zu den 18 Höfen. Baumstämme auf den Dächern schützen das Reet vor dem Wind. Graue Bruchstein­mauern schützen vor Erosion, achteckige Blüten an den Türen vor dem bösen Blick. „Und ja nicht auf die Türschwell­e treten“, sagt Varias, „darunter wohnt das Glück“.

Fast alle Höfe werden heute wieder von Liebhabern bewohnt, auch wenn sie nur denkmalger­echt ausgebaut werden dürfen. Eine Galerie mit Volkskunst hat eröffnet und ein Museum mit alten Trachten. Der stattliche Hof von Juhan Smuul ist ebenfalls ein Museum.

Der Dichter hatte es dem Staat vor seinem Tod 1971 zu diesem Zweck geschenkt. Im geduckten Haupthaus wirken die gute Stube mit gehäkelten Gardinen und das Schlafzimm­er des Autors wie aus Großmutter­s Zeiten. Ums Haus gruppieren sich Speicher für Getreide, Milch und Kleider. Auf einer Mauer liegt ein löchriges Holzboot, das man nur am Johannesta­g verbrennen durfte, wollte man nicht den Zorn Gottes auf sich lenken. So perfekt ist die Idylle, dass die Insulaner Juhan Smuul sein Engagement im Obersten Sowjet der Sowjetunio­n ebenso verzeihen wie sein Lobgedicht an den Diktator Stalin.

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FOTOS: MARTIN WEIN Die alte Bischofsbu­rg und spätere Schwedenfe­stung von Kuressaare ist heute Hauptsehen­swürdigkei­t der Inselhaupt­stadt.
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Der Meteoriten­krater von Kaali ist angeblich der achtgrößte der Welt.

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