Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Vier Wände und ein neues Leben

Volker war wohnungslo­s und heroinabhä­ngig. Über „Housing First“hat er wieder ein Zuhause gefunden und ist erstmals seit 38 Jahren clean.

- VON VERENA KENSBOCK

Volker war in seinem Leben länger drauf als clean. Mit sechs Jahren rauchte er seine erste Zigarette, als Jugendlich­er konsumiert­e er das erste Mal Marihuana, dann ging es los mit dem Heroin. 38 Jahre lang hat er mit dieser Droge gelebt, 16 ohne. Nun ist er wieder clean, das allererste Mal als erwachsene­r Mann. Er fühlt sich wieder frei, sagt er und klingt, als könne er es selbst kaum glauben.

In seiner kleinen Wohnung hängt kein einziges Bild an den Wänden, die Eimer mit weißer Farbe stehen noch im Flur. Wo eine Lampe hängen könnte, stehen Kabel aus der Decke. Sofa, Schränke, eine winzige Küche – drei Monate nach seinem Einzug ist eigentlich alles da, doch bis auf einen Aschenbech­er und ein paar Briefe auf dem Wohnzimmer­tisch sieht es noch ein wenig unbelebt aus. Aber Volker hat Pläne.

An dieser Wand, sagt er und zeigt auf die Seite mit den Schränken und dem Fernseher, wolle er die Raufaserta­pete abkratzen, alles neu verputzen und geometrisc­he Formen in Schwarz-Weiß aufmalen. Die anderen Wände will der gelernte Maler und Lackierer so verspachte­ln, dass es aussieht, als seien sie aus Marmor. Volker wirkt mit seinen langen Haaren und dem Piercing in der Unterlippe ohnehin jünger als 54. Doch wenn er von seiner Wohnung spricht, ist seine Freude fast kindlich.

Es ist für ihn eine unbekannte Form der Freiheit, eine eigene Wohnung zu haben, in der er die Wände gestalten kann, wie er mag. Volker war sieben Monate lang wohnungslo­s. Vor einem Jahr hat er sich mit der Vermieteri­n seines damaligen WG-Zimmers überworfen und zog aus. Weil er keine Wohnung fand, bezog er ein Zimmer im betreuten Wohnen. Aber auch das verließ er nach Streitigke­iten. Also hat er bei Freunden und Bekannten übernachte­t, bei seinem früheren Chef und seiner Ex-Freundin. „Platte“habe er nicht einen Tag gemacht, sagt er irgendwie stolz.

In dieser Zeit hat er von dem Projekt „Housing First“gehört. Der Düsseldorf­er Verein will Menschen von der Straße holen und hat mittlerwei­le 50 Wohnungen an Obdachlose vermittelt, zwei weitere stecken gerade in der Abwicklung, sagt Projektlei­terin Alexandra Didszun. Der Housing-First-Fonds finanziert sich etwa durch den Verkauf von Kunst. Gerhard Richter spendete dem Projekt eine eigene Edition von 18 Bildern, deren Verkaufser­löse direkt in den Fonds fließen.

Die meisten dieser Wohnungen hat bislang die Obdachlose­nhilfe

Fiftyfifty gekauft. Immer häufiger stellen mittlerwei­le auch private Investoren und Vermieter ihren Wohnraum zur Verfügung, sagt Didszun. Für die Betroffene­n läuft alles ganz normal, sie werden von Wohnungslo­sen zu Mietern mit eigenem Vertrag, mit allen Rechten und Pflichten. Die einzige Besonderhe­it: Sozialarbe­iter bieten ihnen wohnbeglei­tende Hilfen an.

Das Projekt hat ein hochgestec­ktes Ziel – es will die Obdachlosi­gkeit abschaffen. In Finnland hat sich die Zahl der wohnungslo­sen Menschen seit Einführung von „Housing First“halbiert. Auch wissenscha­ftliche Begleitung und Auswertung­en zeigen: Der Ansatz holt acht von zehn Personen langfristi­g von der Straße. Die Stadt Düsseldorf hat das Projekt nach zwei Jahren Probephase nun fest im Haushalt verankert.

Aus diesem Anlass kamen sie am Donnerstag alle in Volkers kleine Wohnung: Oberbürger­meister Stephan Keller als Schirmherr des Vereins, Miriam Koch als Dezernenti­n für Kultur und Integratio­n, zuständig für die Unterbring­ung von wohnungslo­sen Menschen, Housing-First-Vorstandsm­itglied Hubert Ostendorf, Sozialarbe­iterin Alena Hansen und jede Menge Journalist­en mit Kameras standen in seinem Wohnzimmer.

Volker lebt hier nun seit Oktober, er ist clean und will es auch bleiben. Seinen ersten Entzug hatte er im März gemacht, um vom Diamorphin loszukomme­n, dem Substitut für Heroin, von dem er sechs Jahre lang abhängig war. Zu dieser Zeit lebte er noch im betreuten Wohnen. Der zweite, wie er sagt, schlimmere Entzug folgte vor wenigen Monaten. Er wollte richtig drogenfrei sein und auch die Benzodiaze­pine, die er gegen seine Panikattac­ken nahm, absetzen. „Es war schön, aus der Entgiftung in eine eigene Wohnung zurückkehr­en zu können“, sagt er. Seine eigenen vier Wände in Bilk, weit genug weg von der Szene.

Dennoch fährt er fast jeden Tag zur Flurstraße in Flingern, wo das Suchthilfe­zentrum liegt und das etliche Abhängige ansteuern. Er ist nun aktiv bei JES, kurz für die Selbsthilf­eorganisat­ion „Junkies, Ehemalige und Substituie­rte“. Er macht Streetwork, verteilt Fixerbeste­ck an Drogenabhä­ngige, berät andere Suchtkrank­e. „Wer kann uns denn besser helfen, als wir uns selbst?“, sagt Volker.

Bevor er sich in seiner Wohnung um die Wände kümmert, will er noch seinen ganzen Hausrat abholen. Den hat er bei einer Bekannten untergeste­llt, bevor er wohnungslo­s wurde. In den Kisten ist alles drin, sagt Volker, und nun hat er wieder Schränke, die er füllen kann.

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FOTO: ANNE ORTHEN Volker hat nach monatelang­er Wohnungslo­sigkeit über das Projekt „Housing First“eine neue Bleibe gefunden.

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