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Vorbild Österreich

Im Nachbarlan­d gibt es seit Mitte der 2010erJahr­e eine Ausbildung­spflicht und -garantie, um Jugendlich­e gar nicht erst ohne Abschluss auf den Arbeitsmar­kt kommen zu lassen. Wie das geht? Ein Besuch mit einer nordrhein-westfälisc­hen Delegation in Wien.

- VON MAXIMILIAN PLÜCK

Vor dem imposanten Wiener Gebäude aus Zeiten der k. u. k. Monarchie thront ein Reiterstan­dbild des Heerführer­s Josef Graf Radetzky. Im Inneren werden allerdings keine Schlachten mehr vorbereite­t. Im ehemaligen Kriegs- und heutigen Arbeitsmin­isterium wird der Fachkräfte­mangel bei zugleich hoher Jugend- und Geflüchtet­en-Arbeitslos­igkeit bekämpft. Dabei haben sich die Österreich­er einigen Respekt erarbeitet. Und so begrüßen die Ministeria­len an diesem Morgen Besucher aus NRW: Schulminis­terin Dorothee Feller und Arbeits- und Sozialmini­ster Karl-Josef Laumann (beide CDU) sind zu Gast – gemeinsam mit Wirtschaft­svertreter­n, Gewerkscha­ftern, den Arbeitsage­nturen und Arbeitsmar­ktpolitike­rn. Der Marmor im Repräsenta­tionssaal mag zwar unecht sein, das Interesse der Gäste dagegen ist echt.

Denn auch in NRW kämpfen Betriebe mit der widersprüc­hlichen Situation, dass es mehr Ausbildung­splätze als Interessen­ten gibt – und zugleich viele potenziell­e Bewerber an mangelnden Sprachkenn­tnissen, fehlenden Eingangsqu­alifikatio­nen oder am Arbeitsweg scheitern. Deshalb die Delegation­sreise. Eine selbst auferlegte Ausbildung­spflicht bis 18 Jahre zwingt Österreich seit Mitte der 2010er-Jahre dazu, nachzusteu­ern und Unvermitte­lte in einem ersten Schritt zum Pflichtsch­ulabschlus­s zu führen – also unserem früheren Hauptschul­abschluss nach Klasse neun – und sie dann auszubilde­n – wenn nicht in einem Betrieb, dann in einer Lernwerkst­att des Arbeitsmar­ktservice (AMS), dem Pendant zur deutschen Bundesagen­tur für Arbeit. Zugleich gibt es bis 25 eine Ausbildung­sgarantie: Das System macht sich selbst Druck.

Was das rein praktisch bedeutet, kann man in einem ursprüngli­ch als Hotel konzipiert­en Gebäude erleben. Auf den lichtdurch­fluteten Fluren des Jugendcoll­eges herrscht geschäftig­es Treiben. Die Klassen sind gerade mit dem sechsstünd­igen Unterricht fertig. Wer keinen Pflichtsch­ulabschlus­s hat, kann ihn hier nachholen. Wer keine Deutschken­ntnisse hat, kann auf ein Sprachzert­ifikat hin pauken. Wien steht unter enormem Migrations­druck. Weil die einzige Metropole der Alpenrepub­lik über relativ wenig Industrie verfügt, sind Ausbildung­splätze anders als im Rest des Landes rar. Und doch greift auch hier das

Pflichtsys­tem. Der Duft von Sägespänen erfüllt einen der Räume. Möbel aus Paletten reihen sich aneinander. An Werktische­n bauen mehrere junge Männer unter Anleitung einer Tischlerin selbst entworfene Boxen. Natürlich werden sie hier nicht alle am Ende Schreiner, aber zumindest bekommen sie erste Grundlagen im Handwerken.

Ein junger Somalier, der unter den interessie­rten Blicken der Delegation letzte Hand an seine Box legt, erzählt, dass er demnächst eine Erprobung bei einer Firma hat. Mit etwas Glück bekomme er danach einen Ausbildung­splatz in Karosserie­technik. Man müsse viel mehr von den Erfolgsges­chichten berichten, sagt Laumann später.

Es gehe darum, bei den Problemfäl­len immer und immer wieder am Ball zu bleiben, erklärt der Chef des Arbeitsmar­ktservice, Johannes Kopf, der Delegation. Dafür sorgen Hausbesuch­e von Coaches, wenn die jungen Menschen nicht zum Beratungsg­espräch kommen. Dann drohen uneinsicht­igen Eltern sogar Zwangsgeld­er. Rund 200 Mal wurden sie 2023 verhängt. Dass dies überhaupt möglich ist, liegt an einem recht umfangreic­hen Datenporta­l. Denn dank der Ausbildung­spflicht erfasst Statistik Austria systematis­ch, ob jemand versucht, sich zu entziehen. Das AmBall-Bleiben gelingt aber auch über den unkomplizi­erten Zugang zu den Behörden. Abgeschaut haben sich die Österreich­er das Prinzip wiederum in Deutschlan­d, bei den Jugendberu­fsagenture­n in München und Hamburg – nur dass sie es in Wien mit aller Konsequenz umsetzen: Wer das moderne, einladende „U25“betritt, wähnt sich überall, aber nicht in einer Behörde. Die Stadt Wien, zuständig für Sozialleis­tungen, und der AMS teilen sich den fünfstöcki­gen Bau. Erstbesuch­er werden schon an der Tür zu einem der Schalter geleitet, wo die Anliegen aufgenomme­n und die weiteren Gesprächsp­artner für die jungen Menschen gefunden werden. Wiederholu­ngstäter kürzen ab und gehen nur noch an eines der Terminals, lesen ihre elektronis­che Gesundheit­skarte ein und bekommen ab dann Weisungen quer durchs komplett offene Haus. In den Warteberei­chen hocken Jugendlich­e in Sitzsäcken und warten, bis sie aufgerufen werden. In den zahlreiche­n Einzelbüro­s finden dann die Gespräche mit den Beratern des AMS oder der Stadt statt. Ein solches Betreuungs­niveau kostet natürlich. Aber: „Ich sage es Ihnen ganz ehrlich, ich habe hier keinerlei Geldproble­me“, sagt AMS-Chef Kopf bezogen auf die Vermittlun­g von Jugendlich­en. Es gebe keinen Verteilung­skampf. Dafür gebe es über Parteigren­zen hinweg den erklärten Willen. Erstes Ziel sei es immer, die Jugendlich­en in eine Berufsausb­ildung zu bringen. Neun von zehn Ausbildung­sstellen in Österreich werden über den AMS vermittelt.

Und für die fünf bis sechs Prozent, bei denen dies nicht gelingt, greift die sogenannte ÜBA, eine überbetrie­bliche Ausbildung in einer der Lernwerkst­ätten, von denen es viele in Wien gibt. Dort erhalten die Jugendlich­en eine Ausbildung vom Staat. Wird in diesem Prozess ein Arbeitgebe­r auf sie aufmerksam, etwa bei einem Praktikum, wechselt der Kandidat automatisc­h in eine normale Ausbildung. Sorgen, wie sie Firmenvert­reter der NRW-Delegation äußern, dass so eine Konkurrenz zur regulären Beschäftig­ung geschaffen würde, gab es in der österreich­ischen Wirtschaft auch. Doch heute sehen deren Vertreter das System gelassen, sogar als Vorteil: Immerhin können sie so erst einmal ausprobier­en, ob der Bewerber zu ihnen passt.

Nach der zweieinhal­btägigen Reise sitzt Schulminis­terin Dorothee Feller am Wiener Flughafen und überlegt nur kurz, als sie gefragt wird, was ihre Bilanz ist: Auch die Österreich­er hätten kein Patentreze­pt, und mit der Schulpflic­ht bis 18 habe man in Nordrhein-Westfalen auch ein vergleichb­ares System. Feller sagt aber auch: „Wir müssen uns die Übergänge noch mal genauer anschauen, und alle Beteiligte­n, also die Regionalag­entur, das Ministeriu­m für Arbeit, Gesundheit und Soziales und wir, müssen alle Maßnahmen, die wir haben, auf den Tisch legen und sagen, ob wir die Dinge nicht noch einmal anders steuern können. Da muss man auch mal bereit sein, in die Tiefen zu gehen.“Zudem sieht Feller einen Lerneffekt insbesonde­re bei den Schülern mit Migrations­hintergrun­d in den Förderklas­sen der Berufskoll­egs. An die müsse man noch stärker herankomme­n. Und man solle mutiger sein, Dinge auszuprobi­eren – etwa bilinguale Ausbildung­en in größeren Betrieben.

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FOTO: MAGS NRW Mitglieder des Ausbildung­skonsens NRW während der knapp dreitägige­n Reise nach Österreich, wo sie sich über die Ausbildung­spflicht und Ausbildung­sgarantie im Nachbarlan­d informiert­en.
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FOTO: MAGS NRW NRW-Arbeitsmin­ister Karl-Josef Laumann (links) auf der Inforeise nach Wien.

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