Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
Wenn es piept, rauscht und pfeift
Mehr als zehn Millionen Menschen leiden in Deutschland unter Ohrgeräuschen. Ein Tinnitus kann sogar die Psyche belasten. Eine Expertin gibt Tipps zur Selbsthilfe.
Wie kann sich jemand, der nicht betroffen ist, einen Tinnitus vorstellen? „Klingeln“– das bedeutet der aus dem Lateinischen stammende Begriff „Tinnitus“. Und genau so beschreiben es auch die meisten Betroffenen: als Klingeln in den Ohren. Es kann aber auch ein Dauerrauschen, ein permanentes Piepen oder ein Pfeifton sein. Manche hören dauerhaft Töne, bei anderen wiederum treten die Ohrgeräusche nur episodisch auf. Manche hören die Geräusche nur auf einem Ohr, manche auf beiden, andere nur irgendwo diffus im Kopf. Auch Lautstärke und Intensität der Störgeräusche werden ganz unterschiedlich wahrgenommen. Eingebildet sind sie aber keinesfalls. Eines haben die Millionen Betroffenen auf der ganzen Welt gemeinsam: Nur sie können diese Geräusche hören. Messen kann der Arzt die Töne im Ohr nicht. „Der Patient kann lediglich das Geräusch und die Tonhöhe beschreiben“, sagt die Neurowissenschaftlerin Maren Stropahl. Mediziner teilen den Tinnitus je nach Ausprägung in vier Schweregrade ein.
Kann es jeden treffen?
Prinzipiell ja. „Aber mit dem Alter steigt die Wahrscheinlichkeit, einen Tinnitus zu entwickeln“, so Stropahl. Rund zehn bis 15 Prozent der Weltbevölkerung leiden an einem Tinnitus. Die allermeisten Menschen lernen, damit zu leben. Aber etwa 20 Prozent der Patienten benötigen professionelle Hilfe.
Was passiert da genau im Ohr?
Wichtig für alle Betroffenen zu wissen: „Bei einem Tinnitus geht nichts kaputt im Ohr“, so die Expertin. Weil aber die Schallverarbeitung ein extrem komplizierter Mechanismus ist, sind auch die genauen Abläufe ungeklärt, die einen Tinnitus auslösen. Natürlich gibt es typische Ursachen, die einen Tinnitus befördern können. Dazu gehören laut Stropahl etwa starker Lärm über einen längeren Zeitraum oder ein plötzliches Lärmereignis wie ein Knalltrauma. Aber auch Stress oder ein Hörsturz können einen Tinnitus auslösen.
Können auch andere Erkrankungen einen Tinnitus befördern?
Ja. Auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Verspannungen im Halswirbeloder Kieferbereich oder auch eine Mittelohrentzündung können zu Ohrgeräuschen führen. Ebenso Nebenwirkungen von Medikamenten oder Erkrankungen im Innen- oder Mittelohr. Ernsthafte Erkrankungen wie bösartige Tumoren sind extrem selten Ursache für einen Tinnitus.
Gibt es Zusammenhänge zwischen der Hörgesundheit und der allgemeinen Gesundheit?
„In der Regel ist nicht das Geräusch das Problem, sondern die mentale Reaktion des Betroffenen“, sagt Maren Stropahl. Ein permanenter Störton im Ohr, den nur der Patient selber hört – das könne auf Dauer auch etwas mit der Psyche machen, wenn ein Leidensdruck bestehe. „Wenn ein Tinnitus unbehandelt bleibt, können daraus auch Probleme wie Schlafstörungen oder Angstzustände entstehen“, so Stropahl, die zugleich Leiterin der Audiologie bei Hörgeräte Geers in Dortmund ist. Auch Depressionen seien eine mögliche Langzeitfolge bei unbehandeltem Tinnitus. Insgesamt sind derartige Probleme aber eher die Ausnahme: Immerhin 80 Prozent der Tinnitus-Patienten haben keine Probleme.
Gibt es Begleiterkrankungen bei Tinnitus-Patienten?
„Ein Tinnitus beschädigt nichts im Ohr und ist auch nicht die Ursache für einen Hörverlust“, betont die Wissenschaftlerin deutlich. Im Gegenteil, es sei vielmehr umgekehrt: „80 bis 90 Prozent der Tinnitus-Patienten haben auch eine Hörstörung von unterschiedlichem Ausmaß.“Außerdem leidet ein großer Teil der Tinnitus-Betroffenen auch an einer Geräusch-Überempfindlichkeit.
Welche Therapieansätze gibt es nach einer Diagnose?
Eine Heilung gibt es bisher nicht für
Tinnitus. Aber häufig verschwinden die Ohrgeräusche nach einiger Zeit auch wieder von alleine. Wenn nicht, kann mit der richtigen Behandlung die individuelle Belastung deutlich verringert werden. Therapien zielen vor allem darauf ab, durch kognitive Verhaltenstherapien die Wahrnehmung des Tinnitus zu verändern. „Es geht dabei vor allem darum, dass der Patient lernt, seine emotionalen Reaktionen auf das Dauergeräusch zu kontrollieren“, so Stropahl. Also etwa negative Gedankenmuster, die er mit dem Geräusch verbindet, zu erkennen und zu durchbrechen.
Außerdem können Hörgeräte helfen, die Geräuschbelastung zu reduzieren. Bei der sogenannten Maskierung zum Beispiel überdecken externe Geräusche sehr effektiv das innere akustische Störfeuer. Auch können Hörgeräte beruhigende Klänge oder sanftes Rauschen einspielen, die das Dauerpiepen im Ohrinneren überdecken. Liegt ein Hörverlust oder eine -minderung vor, müssen ohnehin Hörgeräte zum Einsatz kommen. Eine dritte noch recht neue Therapieform beschäftigt sich mit sogenannter bimodaler Neuromodulation. Hierbei werden gezielt zwei Nerven, nämlich das Gehör und die Zunge, mit Reizen stimuliert. „Studien zeigen, dass diese Art der bimodalen Neuromodulation gute Effekte auf die Aktivität der Nervenzellen hat und bei
Tinnitus-Patienten dadurch die Aufmerksamkeit und Empfindlichkeit des Gehirns gegenüber dem Tinnitus verringert werden kann“, erklärt Stropahl.
Was können Betroffene selbst tun, um vorzubeugen oder sich zu helfen?
Es gibt inzwischen zahlreiche Apps fürs Smartphone, mit denen Betroffene ihr Tinnitus-Management selbst in die Hand nehmen können. Diese können zum einen ähnlich wie Hörgeräte gezielt Geräusche anbieten, die den Tinnitus überlagern. Oder aber sie bieten mittels Aufklärung und Verhaltenstherapien Möglichkeiten der Selbsthilfe. Stropahl: „Apps ersetzen keine vollständige Therapie, aber sie können helfen, Symptome zu lindern.“Dazu beitragen können außerdem Entspannungsübungen und regelmäßiger und ausreichender Schlaf.
Wann muss ich zum Arzt?
Unbedingt immer dann, wenn es ein akutes Ereignis im Ohr gibt, also etwa einen Hörsturz oder ein Knalltrauma. „Oft kann der Arzt in einer solchen akuten Phase sehr gut medikamentös behandeln“, so Stropahl. Aber auch wenn man über einen längeren Zeitraum Ohrgeräusche höre, sollte man dies von einem Facharzt für Hals-Nasen-Ohrenkunde abklären lassen. Halten die Beschwerden länger als drei Monate an, sprechen Ärzte von einem chronischen Tinnitus. Stropahl betont: „Bei Problemen mit dem Gehör sollte man nie lange warten, sondern diese unbedingt immer zeitnah vom Arzt abklären lassen.“