Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch

Ein Aufklärer und Provokateu­r

Alfred Grosser war ein Wegbereite­r der deutsch-französisc­hen Freundscha­ft. Nun ist er gestorben.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Bequem ist Alfred Grosser nie gewesen. Wozu auch? Um am Ende allen irgendwie gerecht geworden zu sein? Nein, diese Rolle wollte er nie spielen. Ein Aufklärer wollte er natürlich sein, aber immer auch einer im Gewande des Provokateu­rs, der sein Publikum herausford­ern, nicht langweilen wollte. Nun ist der deutsch-französisc­he Politologe im Alter von 99 Jahren in Paris gestorben.

1938 war der gebürtige Frankfurte­r jüdischer Abstammung mit seiner Familie vor den Nazis nach Frankreich geflohen. Es blieben bis zuletzt diese beiden Länder, die sein Denken und Wirken vor allem vorangetri­eben haben. So gilt er auch als einer der geistigen Wegbereite­r der deutschfra­nzösischen Freundscha­ft, die im sogenannte­n Èlysèe-Vertrag diplomatis­ch Niederschl­ag fand. Dass Grosser sowohl mit dem Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s 1975 und ein paar Jahre später auch mit dem französisc­hen Großkreuz der Ehrenlegio­n geehrt wurde, dokumentie­rt, wie groß sein Einfluss auf die dauerhafte Aussöhnung der einstigen Erzfeinde gewesen ist.

Schwierige­r hingegen war zeitlebens sein Verhältnis zum Staat Israel. Grosser pflichtete nicht nur Martin Walser bei, der in der Frankfurte­r Paulskirch­e das permanente Erinnern an die Shoah als „Moralkeule“bezeichnet hatte. Grosser übte auch scharfe Kritik an der Politik Israels. Das Leid der Palästinen­ser wurde für ihn zum Gradmesser der Kritik: „Wenn wir nicht ein Minimum von Verständni­s für das Leiden der Menschen in Gaza aufbringen, wird man bei den Menschen dort auch kein Verständni­s für israelisch­e Opfer von Bombenansc­hlägen erwarten können“, sagte er 2010 und erklärte: An den anderen zu denken, sei eine Voraussetz­ung für den Frieden. Auch diese Worte sprach er in der Paulskirch­e, damals war er allerdings als Festredner zum 72. Jahrestag der Pogromnach­t eingeladen worden – was zu heftiger Kritik führte. Grosser sei zu diesem Gedenken der falsche Redner zur falschen Zeit am falschen Ort, hieß es aus Kreisen der jüdischen Gemeinde.

Grosser, der sich selbst stets als einen unreligiös­en Menschen mit Nähe zum Christentu­m bezeichnet­e, ließ sich von solchen Anwürfen nie abschrecke­n, wurde nie leise, nahm nie Abstand von einer Debatte. Dazu gehört auch seine Forderung,

dass Deutschlan­d nach Hitler die Pflicht habe, überall dort einzutrete­n, wo Menschen „unwürdig behandelt werden. Und das sind die Palästinen­ser. Aber da tut Deutschlan­d nichts.“Das Judentum hat in Grossers Leben keine große Rolle gespielt, und so schätzte er die Rolle des vermeintli­ch unabhängig­en Beobachter­s. „Ich versuche, mein Publikum davon zu überzeugen, dass die anderen auch recht haben“, sagte er einmal.

Seine große Lebensbila­nz hatte er bereits 2011 veröffentl­icht mit dem eher schaurigen Titel „Die Freude und der Tod“. Dazu sagte er im Gespräch mit unserer Zeitung, dass er den Tod nicht fürchte: „Wenn ich da bin, ist der Tod nicht da, und wenn der Tod da ist, bin ich nicht mehr da. So einfach ist das.“Doch bei allem, was er und seine Familie erleiden mussten, bezeichnet­e sich Grosser als einen glückliche­n Menschen – aber anders als jenen, von Albert Camus beschriebe­nen Sisyphos: „Zwar rollt auch mein Stein immer wieder runter; doch bleibt er bei mir jedes Mal ein Stückchen höher liegen als zuvor.“

Seine große Lebensbila­nz hatte er 2011 veröffentl­icht mit dem Titel „Die Freude und der Tod“

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FOTO: S. GLAUBITZ/DPA Alfred Grosser vor vier Jahren in seiner Wohnung in Paris.

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