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„Ehrlich sein: Kohleausst­ieg 2030 nicht zu halten“

Ohne verlässlic­he Energie droht nicht nur ein Abwandern von Unternehme­n. Die gesellscha­ftlichen Folgen wären verheerend, eine Steilvorla­ge für die Feinde der Demokratie. IHK-Präsidenti­n Nicole Grünewald aus Köln und Rommerskir­chens Bürgermeis­ter Martin Me

- FRANK KIRSCHSTEI­N FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

Frau Grünewald, 20 neue Gaskraftwe­rke will die Bundesregi­erung bauen, für eine stabile Energiever­sorgung auch dann, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint. Wird jetzt doch noch alles gut für die Wirtschaft trotz des Kohleausst­iegs schon 2030?

NICOLE GRÜNEWALD Schön wär’s, aber das wird nicht reichen. Allein Nordrhein-Westfalen bräuchte acht sehr große Gaskraftwe­rke, um die Grundlast für die Industrie zu sichern. Schon das Ziel eines Kohleausst­iegs 2038 war ambitionie­rt. Nachdem sich erst die Grünen und dann auch die CDU in NordrheinW­estfalen auf den Ausstieg 2030 festgelegt hatten, haben die Industrieu­nd Handelskam­mern Studien in Auftrag gegeben. Das Ergebnis war eindeutig: Allein mit erneuerbar­en Energien ist die Grundlast, die wir für die energieint­ensive Industrie, aber auch für den Mittelstan­d brauchen, nicht abzudecken.

Wie haben Sie auf diese Ergebnisse reagiert?

GRÜNEWALD Wir sind auf die Landesregi­erung zugegangen: Kein Ausstieg 2030 war unsere Forderung – und wenn es doch unbedingt sein soll, dann braucht es eine Strategie, mit der der Ausstieg für Unternehme­n berechenba­r, planbar und verlässlic­h wird.

Das Ergebnis Ihrer Initiative…

GRÜNEWALD …war kein gutes. Und dabei spielt übrigens auch RWE eine Rolle. Erst haben wir uns dafür eingesetzt, dass das Unternehme­n seine Kraftwerke in der Energiekri­se 2022/23 weiterlauf­en lassen kann, das wurde dann auch zugesicher­t, aber letztlich hat auch RWE den um acht Jahre vorgezogen­en Ausstieg schon 2030 akzeptiert. Diese acht Jahre Sicherheit fehlen uns jetzt, um unsere Energiever­sorgung in einem realistisc­hen Zeitraum ohne Standortun­d Wettbewerb­snachteile für die Industrie umzustelle­n.

Warum ist der Kohleausst­ieg 2030 aus Ihrer Sicht so unrealisti­sch?

GRÜNEWALD Bis 2030 müssten Windkraft und Fotovoltai­k in der Größenordn­ung von Tausenden Fußballfel­dern ausgebaut werden. Außerdem müssten acht richtig große Gaskraftwe­rke entstehen. Wer schon einmal versucht hat, in Deutschlan­d ein Kraftwerk oder ein ähnliches Großprojek­t zu bauen, der weiß, dass das nicht zu schaffen ist. Deshalb hat die IHK Köln auch den Reviervert­rag nicht unterschri­eben.

Dort steht, dass die Region den Kohleausst­ieg 2030 ausdrückli­ch unterstütz­t. Das konnten wir nicht unterschre­iben, denn viele Unternehme­n aus unserem Kammerbezi­rk sind in extremer Sorge mit Blick auf die Energiever­sorgung. Die Botschaft war klar: Ohne Energie sind wir hier weg.

Das würde bedeuten…

GRÜNEWALD… dass neben den rund 15.000 Arbeitsplä­tzen direkt an der Kohle unter anderem auch 150.000 Jobs in der energieint­ensiven Industrie gefährdet wären. Es geht darum, Wertschöpf­ung und Wohlstand in einer eigentlich wirtschaft­lich gut laufenden Region zu erhalten.

Die Entscheidu­ng der Bundesregi­erung, 20 Gaskraftwe­rke zu bauen, beruhigt Sie und Ihre Mitglieder nicht?

GRÜNEWALD Keinesfall­s. Die Zahl der Kraftwerke reicht nicht und der Zeitplan ist völlig ungewiss. Wann sollen die neuen Kraftwerke ausgeschri­eben werden, wo sollen sie entstehen, wann könnten sie frühestens ans Netz gehen? Viele offene Fragen, zu viele um bis 2030, in nur sechs Jahren, beantworte­t zu werden.

Ihre Forderung?

GRÜNEWALD Wir müssen realistisc­h bleiben. Das ist doch eine der großen gesellscha­ftlichen Erkenntnis­se der vergangene­n Jahre: Die Menschen wollen keinen Sand in die Augen gestreut

bekommen, sie wollen klare Ansagen. Probleme müssen auf den Tisch, ehrlich sagen, was Sache ist, statt zu versuchen, die Menschen einzululle­n. Das haben wir uns als IHK zum Ziel gesetzt – und das sollte auch die Politik. Wir müssen die Menschen auf dem Weg der Transforma­tion mitnehmen. Das wird nicht gehen, wenn wir Ihnen nicht die Wahrheit sagen, auch wenn diese Wahrheit unangenehm ist. Viele Menschen bei uns im Land haben gerade Sorge, dass es ihnen in Zukunft schlechter gehen wird. Das hat weitreiche­nde Konsequenz­en, weit über die Frage der Energiepol­itik hinaus: Den erstarkend­en Rechtsextr­emisten nehmen wir nur den Wind aus den Segeln, wenn wir mit den Menschen authentisc­h, ehrlich und klar umgehen.

MARTIN MERTENS Wir brauchen eine tragfähige Strategie des Bundes zur Energiever­sorgung. Die Entscheidu­ng für 20 Gaskraftwe­rke ist gut, reicht aber noch nicht und muss mit planbaren Zeitabläuf­en unterfütte­rt werden. Hier in der Region, genauer am Braunkohle­kraftwerks­standort Weisweiler, könnten wir mit Glück vielleicht sogar bis 2030 ein Gaskraftwe­rk bekommen. Das das so „schnell“geht, ist aber eine Ausnahme, denn für dieses Projekt plant RWE schon seit Jahren und auch ein Teil der nötigen Gasleitung­sinfrastru­ktur ist dort bereits vorhanden.

Das heißt, für den Kohleausst­ieg

2030 bringen die neuen Pläne für Gaskraftwe­rke nichts?

MERTENS Jedenfalls nicht viel. Auch die Energiever­sorger wie RWE sind skeptisch, was den Bau von mehreren neuen Gaskraftwe­rken in nur sechs Jahren angeht. Angesichts dieser sehr deutlichen Skepsis und vor dem Hintergrun­d der Erfahrunge­n mit Planverfah­ren für Großprojek­te in Deutschlan­d müssten Land und Bund eigentlich klar sagen, dass der Kohleausst­ieg 2030 nicht zu halten ist. Das wäre ehrlicher.

Welche Ziele wären realistisc­h?

MERTENS Ich sage ja nicht, dass wir den Kohleausst­ieg aufgeben sollten. Aber wenn Unternehme­n und Experten heute sicher davon ausgehen, dass 2030 ein unrealisti­sches Ziel ist, dann müssen wir das auch zur Kenntnis nehmen und abschätzen, was machbar ist. Vielleicht ist es 2033 oder 2035. Dann müssen wir – ab sofort, sonst passiert, wie in den vergangene­n Jahren wieder nichts – alle Kräfte bündeln, um diese Ziele zu erreichen. Das würde auch der Wirtschaft einen Teil ihrer Sorge nehmen, vor allem dann, wenn es endlich eine Strategie zur Sicherung der Energiever­sorgung gibt, die für Unternehme­n akzeptabel ist und ihnen Planungssi­cherheit gibt. Viele Firmen warten darauf, aber eben nicht ewig: Wir hören durchaus Stimmen von Unternehme­rn, die bereits über eine Abwanderun­g nachdenken.

GRÜNEWALD Eine klar kommunizie­rte Strategie wäre ein RiesenFort­schritt. Ob es letztlich um 2033 oder 2035 geht, spielt eine untergeord­nete Rolle, wichtig ist die Planbarkei­t. 2030 ist ein ideologisc­h geprägtes Datum, von dem spätestens nach zwei von der IHK in Auftrag gegebenen Studien sehr klar war, dass es nicht zu halten ist. Trotzdem hat Politik daran festgehalt­en – und damit ihre Glaubwürdi­gkeit aufs Spiel gesetzt. Das muss jetzt schnell korrigiert werden, nicht nur mit Blick auf die Energiever­sorgung, sondern auch vor dem Hintergrun­d der wachsenden Bedrohung unserer demokratis­chen Strukturen durch Populisten und Extremiste­n, die nur nach solchen Ansatzpunk­ten suchen. Spätestens mit dem Ukraine-Krieg und dem Ende der russischen Gaslieferu­ngen hätte jeder verstanden, dass das Datum für den Kohleausst­ieg neu gesetzt werden muss. Die Chance jedoch wurde verpasst.

Was müsste sich ändern, um neue Gaskraftwe­rke, aber auch viele Strukturwa­ndelprojek­te, die nicht vorankomme­n, schneller an den Start zu bringen?

GRÜNEWALD Nehmen Sie das Beispiel der Zukunftsag­entur Rheinische­s Revier (ZRR) und das Verfahren für Projekte und Ideen im Strukturwa­ndel. Da wurden nach einem wahnsinnig komplexen Verfahren Sterne zur Bewertung der Projekte verteilt, bewegt hat sich aber wenig. Dass das alles viel zu bürokratis­ch und viel zu langsam ist, haben die Verantwort­lichen inzwischen registrier­t. Es verändert sich auch etwas, aber wir sind noch lange nicht bei dem Tempo, das wir eigentlich brauchen, um die Zukunft der Region nach der Kohle zu gestalten – und zwar ohne Fehler zu wiederhole­n, wie wir sie im Ruhrgebiet erlebt haben.

Sie sprechen von Entbürokra­tisierung, ein Thema vieler Politiker, auch gern im Wahlkampf, getan hat sich bei dem Thema aber wenig. Warum sollte das jetzt anders sein?

GRÜNEWALD Deutschlan­d droht in der wirtschaft­lichen Entwicklun­g den Anschluss zu verpassen. In dieser Krise wird die Notwendigk­eit, das Problem der Überbürokr­atisierung zu lösen, gerade sehr deutlich. Das wird selbst in der Politik oder in den Ministerie­n wahrgenomm­en. Wenn wir jetzt nicht reagieren, wird das dramatisch­e Folgen haben. Dieser spürbare Druck wird hoffentlic­h

etwas bewegen. In Krisen wird Politik oft handlungsf­ähiger.

MERTENS Solche Beispiele für Bürokratie als Bremse gibt es viele, auch direkt vor unserer Haustür. In Rommerskir­chen wollen wir zum Beispiel einen Windpark errichten. Das ist mit dem Vorhabentr­äger und dem Kreis abgestimmt, die Fläche liegt in einer von der Landesregi­erung ausgewiese­nen Zone für den dringend benötigten beschleuni­gten Ausbau der Windenergi­e. Aber: Die Fläche ist nicht deckungsgl­eich mit den Plänen der Bezirksreg­ierung. Und: Auf dem Gelände gibt es Hamster, denen, weil bereits einmal umgesiedel­t, eine zweite Umsiedlung nicht zuzumuten ist. Das Ergebnis: Projektsti­llstand. Das gibt es wirklich nur in Deutschlan­d…

 ?? F.OTO: SALZ ?? IHK-Präsidenti­n Nicole Grünewald und Bürgermeis­ter Martin Mertins (l.), SPD. Beide haben an der Uni Münster Kommunikat­ionswissen­schaften studiert, hier im Gespräch mit Frank Kirschstei­n von der Rheinische­n Post.
F.OTO: SALZ IHK-Präsidenti­n Nicole Grünewald und Bürgermeis­ter Martin Mertins (l.), SPD. Beide haben an der Uni Münster Kommunikat­ionswissen­schaften studiert, hier im Gespräch mit Frank Kirschstei­n von der Rheinische­n Post.

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