Rheinische Post Duesseldorf Meerbusch
„Bei Gerresheimer geht die Luzie ab“
Der Chef des Verpackungskonzerns über den Aufschwung der Aktie und Wachstum mit Diät-Spritzen.
UNTERRATH 11.000 Mitarbeiter weltweit, knapp zwei Milliarden Euro Jahresumsatz – aber eine Zentrale, die eher an einen Mittelständler erinnert: Der börsennotierte Konzern Gerresheimer hat seinen Hauptsitz in einem kleinen Büro-Gebäude am Flughafen. Dort treffen wir den Chef.
Herr Siemssen, Gerresheimer war 2023 mit 49 Prozent Kursplus die erfolgreichste Düsseldorfer Aktie. Können Sie das 2024 wiederholen? DIETMAR SIEMSSEN Dass wir so stark an der Börse zugelegt haben, zeigt die erfolgreiche Transformation von Gerresheimer: Bis unser neuer Vorstand 2019 an Bord kam, wuchs der Umsatz des Unternehmens um ein bis zwei Prozent pro Jahr. In den vergangenen Jahren aber haben wir jeweils zweistellig zugelegt – und das wird auch künftig so bleiben. Daher bin ich persönlich der Meinung, dass Gerresheimer an der Börse unterbewertet ist.
„Unterbewertet“kann die Aktie doch nur sein, wenn Sie es bisher nicht geschafft haben, alle Informationen zu Ihrer Wachstumsstory im Markt zu platzieren.
SIEMSSEN Das ist richtig. Aber es liegt auch daran, dass viele Investoren immer noch die alte Gerresheimer im Kopf haben. Dabei sind wir jetzt ein ganz neues Unternehmen.
Naja, große Getränkeflaschen und Weckgläser machen Sie schon lange nicht mehr, der Fokus auf die Pharma-Industrie ist nichts Neues. SIEMSSEN Neu ist unser Fokus auf Lösungen für großmolekulare Wirkstoffe. Das ist ein globaler Megatrend im Gesundheitsbereich: biopharmazeutische Medikamente, die auf eine spezielle Krankheit zugeschnitten sind – und die injiziert werden. Solche Produkte zu lagern und zu transportieren ist sehr anspruchsvoll, denn die Wirkstoffe sind empfindlich und gleichzeitig aggressiv gegenüber Oberflächen. Viele Biopharmazeutika sind außerdem großvolumig, es muss eine größere Menge injiziert werden. Genau da kommen wir mit unseren speziell darauf zugeschnittenen Primärverpackungen und Verabreichungssystemen wie Spritzen, Pens, Autoinjektoren oder Pumpensystemen ins Spiel.
Wo zum Beispiel?
SIEMSSEN Bei Abnehm-Medikamenten gegen Adipositas, im Volksmund auch Diät-Spritzen genannt. Diese Medikamente werden beispielsweise als Spritze beim Arzt oder mit einem Pen oder Autoinjektor vom Patienten zu Hause verabreicht. Als Lösungsanbieter der Pharmaindustrie liefern wir hier Injektionsfläschchen, Karpulen, Spritzen, Pens und Autoinjektoren – und das weltweit.
Seit 2023 sind appetithemmende Diabetes-Medikamente wie Ozempic von Novo Nordisk oder Mounjaro von Eli Lilly ein großer Renner in Apotheken, jetzt kommen die Adipositas-Medikamente Wegovy und Zepbound hinzu. Das konnte aber vorher niemand ahnen. Ist Ihr Aktien-Aufschwung also einem Zufall geschuldet?
SIEMSSEN Natürlich wussten wir nicht, dass diese Produkte zu „Blockbuster-Medikamenten“werden. Aber wir hatten uns ja schon vorher auf Primärverpackungen und Verabreichungssysteme von genau solchen biopharmazeutischen Arzneimitteln ausgerichtet. Und die meisten Medikamente, die neu entwickelt werden, fallen in unseren Fokus der großmolekularen Wirkstoffe. Die neuen Adipositas-Medikamente sind nur ein Teil davon. Die Gerresheimer von heute kann davon profitieren.
Wie groß wird das Geschäft mit Abnehm-Medikamenten noch? SIEMSSEN Vor Kurzem sprach man von einem 40-Milliarden-DollarMarkt, gemeint sind die Umsätze der Medikamentenhersteller. Dann war ich im Januar auf einer Investoren-Konferenz in New York, da war schon von mehr als 100 Milliarden Dollar die Rede. In jedem Fall steht der Markt noch ganz am Anfang, der richtige Boom kommt erst noch. Und Gerresheimer konnte schon im letzten Quartal des Jahres 2023 zweistellige Millionenbeträge in diesem Bereich generieren. Denn wir sind ein Schlüssel-Lieferant für all jene Hersteller, von denen Sie aktuell ständig in den Medien lesen.
Wie richten Sie das Unternehmen auf den wachsenden Markt aus? SIEMSSEN Wir haben unsere Investitionen massiv hochgefahren – vor allem, um all die neuen Aufträge bedienen zu können. Aktuell haben wir 36 Werke weltweit, drei neue sind in Bau: in Mexiko, in den USA und in Nordmazedonien. Und in bestehenden Pharma-Produktionsstandorten wie in Wertheim oder in Bünde verdoppeln wir unsere Kapazitäten. Insgesamt werden wir in den kommenden Jahren weltweit mehr als 3000 neue Mitarbeiter einstellen.
Investieren Sie auch in Düsseldorf, der Heimat von Gerresheimer? SIEMSSEN Historisch gesehen ist das unser Herz. Aber heute haben wir hier nur noch die Hauptverwaltung mit 150 Mitarbeitern – weltweit betrachtet also nur etwa ein Prozent unserer Belegschaft. Wir bauen die IT- und Finanz-Abteilung aus, aber die Musik spielt woanders.
Die frühere Glashütte in Gerresheim hatte zu ihren besten Zeiten mehr als 5000 Mitarbeiter. Mittlerweile hat das Unternehmen Gerresheimer aber quasi nur den Schreibtisch
in Düsseldorf. Brauchen Sie da überhaupt noch den Namen? SIEMSSEN Wir haben nichts mehr mit dem Stadtteil und dem früheren Geschäftsmodell zu tun. Und ja, der Name ist für manche Ausländer nicht leicht auszusprechen. Aber wir sind ein Unternehmen mit 160-jähriger Geschichte und bereits seit langem Lieferant der pharmazeutischen Industrie, deshalb ändern wir den Namen nicht. Glasflaschen für Hustensäfte werden heute unter anderem an unserem Standort in Essen produziert.
Wenn man heute die Leute in Düsseldorf nach Gerresheimer fragt, kennen viele das neue Geschäftsmodell gar nicht.
SIEMSSEN Das könnte auch daran liegen, dass wir in den ersten 20 Jahren dieses Jahrtausends zwar ein solides Unternehmen waren, dessen Aktie man gerne als sichere Beimischung im Depot hatte. Aber erst jetzt sind wir ein spannender Wachstumswert. Bei Gerresheimer geht die Luzie ab! Die ursprüngliche, eher etwas „langweilige“Gerresheimer ist zu einem hochdynamischen Unternehmen mit einer spannenden Entwicklung geworden.
Was ist das größte Risiko, das Ihren Wachstumsplan durchkreuzen könnte?
SIEMSSEN Das fragen mich Investoren auch immer. Ehrlicherweise stehen kurzfristige Herausforderungen wie steigende Energiepreise oder sinkende Auftragseingänge gar nicht ganz oben auf meiner Liste.
Sondern?
SIEMSSEN Unsere größte Herausforderung ist, die eingeholten Aufträge erfolgreich umzusetzen und die neuen Werke ans Laufen zu kriegen. Dafür brauchen wir die richtigen Leute mit der richtigen Ausbildung am richtigen Ort. Früher hat man geschaut, wo die Löhne am günstigsten waren – da entstanden dann die Werke. Heute baut man Werke dahin, wo die Transportwege kurz sind und wo man auch noch in fünf oder zehn Jahren Leute bekommt, die das Wachstum stützen können. Und genau deswegen investieren wir auch in deutschen Werken dieses Jahr hohe zweistellige Millionenbeträge. Der Wirtschaftsstandort Deutschland ist besser als sein Ruf. Wir sehen hier viele kluge Köpfe und tatkräftige Hände, mit denen wir erfolgreich bleiben und weiter wachsen können.